Elias
Khoury, Hijab und Nakba: die
israelische Belagerung reicht nicht,
die Hamas verhängt ihre eigene
Belagerung
(...)
Als ob die Belagerung von außen
nicht ausreichte, hat die
Hamas-Regierung beschlossen, eine
interne Belagerung namens Moral zu
verhängen. Die Moral verkörpert sich
nach dem Verständnis der
Hamas-Führer im Hijab.
Der
Hijab bedeutet nicht nur, daß den
Frauen eine Kopfbedeckung auferlegt
wird, sie werden auch zum Tragen des
schwarzen, wallenden
„Scharia“-Gewands gezwungen. Sogar
die Rechtsanwältinnen müssen diese
Kleidung unter ihrer Robe tragen.
Damit hört die Sache noch nicht auf.
Es geht auch gegen lautes Lachen und
Schaufensterpuppen und soweit, daß
eine palästinensische Journalistin,
die mit einer Hose und Bluse
bekleidet am Strand war, gefragt
wurde, wie sie alleine ohne
Begleitung eines Verwandten
schwimmen gehen kann. Bis jetzt
bewegen wir uns im Rahmen des
Erwartungsgemäßen, die Bedeckung der
Männer jedoch ist etwas Neues. Ein
Mann hat nicht das Recht, in
Badehose zu baden, weil das seine
Blöße zeigt. Auch das Internet wird
als etwas angesehen, das überwacht
werden muß. So weit - über die
verbotenen Bücher und die Gruppen,
die in bedrohlicher Manier auf den
Märkten Gazas patroullieren und
einer Religionspolizei ähneln, reden
wir nicht.
Die
Beschlüsse zur Verschleierung Gazas
haben zweierlei Bedeutung. Die erste
Bedeutung ist sozio-kultureller Art
und hängt damit zusammen wie die
Muslimbrüder die Bedeutung der
Tugend verstehen, mit ihrer Strenge
und ihrer gebrochenen Beziehung zur
Zeit. Sie wollen zur Vergangenheit
zurückkehren. Das ist ein
kulturelles Projekt, das keine
Perspektive hat. Zudem bedarf ihr
Verständnis von Vergangenheit einer
Korrektur. Sie streichen auf der
Suche nach der ursprünglichen
Reinheit alle Epochen des
arabisch-islamischen Staates aus der
Vergangenheit. Damit entfernen sie
sich aus der Geschichte, die
Geschichte kennt keinen Stillstand.
Wird die Vergangenheit ihrer
(konkreten) Geschichte beraubt, dann
bleibt ein idolhaftes Bild, das
keinerlei Bezug mehr zur
Vergangenheit hat, sondern einem
hypothetischen Mythos von ihr
entspringt.
Die
zweite Bedeutung ist politischer
Art, denn die Beschlüsse der Hamas
verkünden in unzweideutiger Weise
das Projekt der Errichtung eines
islamischen Emirats in Gaza. Das
heißt, daß es unter den Führern der
Hamas die Überzeugung gibt, daß der
Zustand der Spaltung zwischen der
Westbank und Gaza sich in eine
permanente Realität verwandeln wird.
Das könnte bedeuten, daß die Hamas
entschieden hat, das Ziel der
Befreiung Palästinas von der
Besatzung auszutauschen gegen das
Ziel des Aufbaus einer islamischen
Gesellschaft. Entscheidungen dieser
Art sind der politischen Geschichte
der „Brüder“ in Gaza nicht fremd.
Sie haben sich in den Jahren des
palästinensischen nationalen Kampfes
unter dem Vorwand, daß dieser
säkular und ungläubig sei,
geweigert, sich am Widerstand zu
beteiligen. Sie haben erst mit der
Intifada der Kinder der Steine
angefangen, sich dem Widerstand
anzuschließen. Wir befinden uns nach
dem brutalen israelischen Krieg
gegen Gaza vielleicht an der
Schwelle zu einer ähnlichen
Entscheidung. Vielleicht ist die
Führung der Hamas zu ihren geistigen
Ursprüngen zurückgekehrt und hat
beschlossen, daß der
Waffenstillstand ihr ausreichend
Zeit gibt, um ihre islamische
Gesellschaft aufzubauen – und ihr
Emirat.
Der
Beobachter kann das, was in Gaza
geschieht jedoch nicht von den
Entwicklungen in der Palästina-Frage
trennen.
Wir
müssen unser Augenmerk auf drei
Dinge richten.
1.
Das bedrohliche Ausmaß der
Siedlungen in der Westbank, vor
allem in Jerusalem, wo die rechte
israelische Regierung ihren Krieg
gegen das palästinensische Land mit
dem Ziel fortsetzt, es zu
judaisieren und das Projekt eines
palästinensischen Staates in einen
Namen ohne Inhalt zu verwandeln. Die
Bedrohung durch die Siedlungspolitik
betrifft nicht nur die heilige Stadt
selbst, vielmehr ist die Verbindung
der Siedlung Maale Adumim mit
Jerusalem fast erreicht, wodurch die
Westbank in zwei Hälften geteilt
wird. Netanyahu befindet sich
hinsichtlich des Siedlungsbaus in
Jerusalem in einem Wettkampf mit der
Obama-Administration. Das Schicksal
der Stadt wird das Schicksal
Palästinas entscheiden.
2.
Der Krieg gegen die palästinensische
Minderheit in Israel, d.h. gegen die
ursprünglichen Bewohner/innen des
Landes. Das ist ein Krieg, der keine
Gnade kennt. Er begann mit der
Beseitigung der
palästinensisch-arabischen Namen der
palästinensischen Städte und Dörfer
und erreichte seinen Gipfel in dem
Verbot für die Palästinenser, am Tag
ihrer Nakba zu trauern. Er könnte so
weit gehen, daß den Palästinensern,
wie der Faschist Liebermann es will,
ein Treueschwur auferlegt wird.
Israel führt einen Kampf zur
Auslöschung des palästinensischen
Gedächtnisses, denn die Auslöschung
des Gedächtnisses ist Teil des
Projekts zur Auslöschung der
Existenz, das 1948 die Form der
ethnischen Säuberung annahm.
3.
Der Krieg gegen die Olivenbäume. Es
hat in der Geschichte der Kämpfe nie
zuvor so einen organisierten und
programmatischen Haß gegen einen
einzelnen Baum gegeben wie in
Palästina. Das Umpflügen der
Olivenbäume erfolgt systematisch.
Die Sache hat nichts mit Sicherheit
oder Siedlungspolitik zu tun,
sondern ist in erster Linie eine
kulturelle Angelegenheit. Israel hat
sich die Orangen Jaffas, Hummus,
Falafel, Tabbuleh und anderes
angeeignet, aber am Olivenbaum ist
es gescheitert. Dieser gesegnete
Baum ist Nahrung und Arznei und
seine Verbindung mit dem Land
Palästina reicht weit in die
Geschichte zurück. Er ist ein Symbol
der Standhaftigkeit der
palästinensischen Bauern auf ihrem
Land. Daher kommt der israelische
Haß auf seine symbolische Bedeutung.
Diese
drei Phänomene zeigen, daß Israel
seinen Kampf in der Realität und auf
der symbolischen Ebene führt. Es
zerstört Häuser, pflügt Oliven um,
ändert die Namen der Städte und
verbietet das palästinensische
Weinen über den Ruinen der Nakba.
(...)
Gibt es
eine Beziehung zwischen der
Verschleierung Gazas und dieser
israelischen Bemühung, das
palästinensische Gedächtnis zu
vernichten?
(...)
Leider bin ich der Ansicht– und ich
hoffe zu Unrecht -, daß die
Verschleierung Gaza daran hindern
wird, das zu sehen, was in den
übrigen palästinensischen Gebieten
geschieht und es versinken
lassen wird in der „Tugend“ des
Schweigens und einem
gesellschaftlichen Kampf um die
Perspektive, die heute so schwarz
ist wie die Farbe, die Gaza
aufgezwungen wird. Was in Palästina
und in den anderen Teilen des
arabischen Ostens von Ägypten bis
Syrien geschieht hat einen Namen:
Niedergang. Wenn eine Nation vom
Niedergang befallen ist, mehren sich
die falschen Propheten und die
Bedeckung oder das Herzeigen der
Geschlechtsmerkmale wird zur Aufgabe
von Politik und Kultur. Der
Niedergang hat viele Gesichter und
die Herren des Niedergangs schaffen
den Hijab und begründen gleichzeitig
die Unsittlichkeit. Es geht nicht um
die Geschlechtsteile der Frauen und
Männer sondern um ihren Verstand.
Und wer noch Verstand hat, sieht daß
das Angehen gegen den Niedergang
damit beginnt, daß die nationale
Bewegung zu ihrem Widerstandsprojekt
zurückkehrt. Dann verschwindet der
Hijab wie der Kerzenschein vor dem
Glanz des Feuers verschwindet.
Al-Quds
al-arabi, 9.8.2009
übersetzt und leicht gekürzt von
Petra Wild
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