Michael SFARD מיכאל ספרד
Als mein Vater* 21 war, wurde er verhaftet. Geheimdienstagenten
beschatteten ihn ein paar Wochen lang und der Stress, ob und wann er
verhaftet wird, hat ihm sehr zugesetzt. Außerdem tötete dieser seine
betagten Eltern. Viele Mitglieder der Studentenunion wurden mit ihm
verhaftet. Jedes Mal, wenn sich die schwere Tür der Zelle öffnete,
setzte bei jedem das Herz einen Moment aus. Wer wird jetzt zum Verhör
abgeholt? Wer wird die nächsten 10 Stunden mit dem guten und dem bösen
Vernehmungsbeamten verbringen müssen?
Während seiner vielen Verhöre wurde er nicht
geschlagen oder gefoltert, es waren nur immer die selben Fragen, immer
und immer wieder: „Wer sind die Führer hinter den Aufständen?“ „Gib zu,
dass du die Angriffe auf die Sicherheitskräfte geplant hast!“ „Welches
sind deine Kontakte im Ausland?“ „Wer finanziert eure umstürzlerische
Tätigkeit?“ Er aß gut und fror nicht. Aber in den drei Monaten seiner
Haft, alterten seine Eltern aus Sorge und meine Mutter weinte Ströme von
Tränen. Warschau 1968.
Letzte Woche wurde das Ende der Militärdienstzeiten
des IDF-Zentral-Komamndos des Generalmajors Gadi Shamni und des
Judäa-Samaria-Kommandeurs Brigadegeneral Noam Tivon angekündigt. Von
ihrer Brust glänzten die Auszeichnungen für das, was sie während ihrer
Dienstzeit getan haben: die Hamasinfrastruktur auf der Westbank
geschädigt, die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Behörde
verstärkt, den Lebensstandard in den palästinensischen Städten
verbessert und vor allem die Zahl der aus der Westbank kommenden
Terrorakte innerhalb Israels reduziert. Aber da ist eine Auszeichnung,
die Shammi und Tivon nicht bekommen konnten, die sie während ihrer Zeit
als Beherrscher der Westbank nicht verdienten: jenes ärgerliche Dorf,
das seit fünf Jahren jede Woche hartnäckig protestiert, erinnert die
Welt, dass Millionen Menschen noch immer unter Besatzung leben: Bilin.
Bilin
Das kleine Dorf, das früher kaum in Palästina
bekannt war, wurde zum Synonym für palästinensischen, gewaltfreien
zivilen Kampf und ein Ort, wo Israelis und Palästinenser Schulter an
Schulter - also gemeinsam - demonstrieren. Und jetzt – zwei Jahre,
nachdem der Oberste Gerichtshof bestimmte, dass der Trennungszaun, der
von der IDF gebaut wurde, dort illegal sei und seine Route neu gezogen
werden müsste, hat die IDF diese Order noch immer nicht ausgeführt. Nun
haben die beiden Generäle beschlossen, es wäre an der Zeit, diese
wunderbare Solidarität bei den Freitagsdemonstrationen zu zerbrechen.
Es begann vor etwa sechs Monaten mit der Genehmigung
der Anwendung besonderer Tränengasgranaten. Die Biliner Demonstranten
waren schon die Versuchskaninchen für alle Arten von Waffen/ Munition,
die in den Laboratorien der Armee erfunden werden: Pfefferkugeln, die
fürchterlich in Wunden brennen; „der Schrei“ ein Gerät, das eine hohe
Lärmfrequenz hat und die Demonstranten hilflos macht; „das Stinktier“,
das wie sein Name schon sagt, eine faulriechende Flüssigkeit abfeuert,
die in den Kleidern und an der Haut lange hängen bleibt, zum Kotzen
bringt und Bauchschmerzen verursacht. Und hierbei ist das Übliche noch
nicht erwähnt: die mit Gummi überzogenen Kugeln, das reguläre Tränengas
und die Lärmgranaten, tödliche Kugeln und die guten alten Plastik- und
Holzschlagstöcke. So wurde die Geschichte von Bilin auch die Geschichte
von unzähligen gebrochenen Gliedern, blutigen Gesichtern und blauen
Flecken.
Tränengasgranaten gegen Demonstranten in
Bilin. Foto:
Aber die speziellen Tränengasgranaten aus größerer
Entfernung abgefeuert und mit der Kraft einer kleinen Rakete stellen
sogar für Bilin eine Eskalation dar. Im benachbarten Dorf Nilin
verursachten sie schwere Kopfverletzungen bei Tristan Anderson, einem
amerikanischen Demonstranten, der nun seit fünf Monaten im Sheba
Medical-Centrum, Tel Hashomer liegt. Kurz nach ihrer Einführung töteten
sie Bassem Abu Rahme, einen jungen Mann, der nie einer Fliege etwas zu
leide tat. Er wurde der erste Todesfall bei den ( gewaltfreien!!)
Demonstrationen hier.
Nach den speziellen Granaten kamen die nächtlichen
Überfälle. Ihr Zweck war es, jene zu verhaften, die nach der Armee oder
dem Geheimdienst Mitglieder des Dorf-Volkskomitees gegen die Mauer sind.
Während der letzten beiden Monate wachten Bilins Kinder alle paar
Nächte vom lauten Quietschen der Armeejeeps und von Lärmbomben auf.
Kompanien von Soldaten unter der Leitung von Shammi und Tivon brachen in
die Häuser ein, gewöhnlich um 3Uhr morgens und verhafteten, wen sie
gerade grabschen konnten, Männer, Jugendliche oder Kinder. Einige wurden
nach wenigen Stunden wieder frei gelassen, andere nach ein paar Tagen
und wieder andere blieben wegen lächerlicher Anklagen in Haft. Keiner
hat die Israelis angerührt; sogar der Generalmajor und der
Brigadegeneral haben ihre Grenzen.
Einer der Verhafteten bei diesen Überfällen gehört zu
den Verantwortlichen, die
die
Dorfproteste organisieren. Und jeder, der noch an Frieden und Koexistenz
glaubt, kann nur hoffen, dass er schließlich einer der Führer
Palästinas sein wird: Mohammed Khatib. Er ist in den
Dreißigern mit jugendlichem Charme und Charisma und einer der
Architekten der Bilin-Proteste. Es ist der Mann, der mit seinen Freunden
die Idee des gemeinsamen, gewaltfreien Kampfes geschmiedet hat. Der
palästinensische Martin Luther King jr. Sein kreativer Geist hat während
der letzten fünf Jahre nicht geruht. Jede Woche kommt er mit einem neuen
„Ausstellungsstück“, einem neuen Slogan, einem legalen Manöver, das das
Regime in Verlegenheit bringt, oder mit einem Artikel, der die Lügen
und Boshaftigkeit des Regimes aufdeckt.
Er ist derjenige, der in Bezug auf die
Siedlernachbarschaft den Satz prägte: Es ist nicht Ost-Matiyahu – es ist
West-Bilin“ denn die Siedlung liegt auf dem Land des Dorfes. Er kam auf
die Idee, neben dem illegalen (isr.) Bauprojekt den ersten
palästinensischen Außenposten zu errichten, ein 7qm großer Wohnanhänger,
der innerhalb 24 Stunden von einem Bataillon israelischer Soldaten
evakuiert wurde. (Wer sagt denn, es werden keine Westbank-Außenposten
geräumt?)
Khatibs Frau Lamia und ihre Kinder blieben allein im
Haus, als Mohammed nachts verhaftet wurde. Ein paar Nächte später kamen
die Jeeps zurück, holte die Familie aus den Betten und zitierte
Mohammeds Vater zum Verhör. Vielleicht dachten sie, dass sie mehr von
ihm erfahren, wenn er hört, dass sein alter Vater verhört wurde.
Nachdem Khatib entlassen wurde – mit dem Verbot, an
den Demonstrationen teil zu nehmen – kehrten die Jeeps wieder zurück und
verhafteten Mohammed Abu Rahme, 48 ( Abu Nizar) den Vizepräsidenten des
Dorfkomitees.
Die Soldaten brachen die Türe seines Hauses brutal
ein und mit schussbereiten Gewehren holten sie ihn vor den Augen von
Frau und Kindern aus dem Bett. Was soll man da noch sagen? Der
Generalmajor und der Brigadegeneral trafen den Nagel noch einmal auf den
Kopf. Jeder, der die gewaltfreien Stimmen Palästinas brechen will, muss
Abu Nizar verhaften. Das ist ein absolutes Muss. Er ist ein Mann mit
einem Herzen von der Größe Großisraels, seine Persönlichkeit ist ein
menschlicher Magnet für Hunderte von israelischen und internationalen
Aktivisten. Deshalb wurde er wie Khatib dem guten wie dem bösen
Vernehmungsbeamten überreicht. Vier Tage und vier Nächte wurde er vom
Shin Bet verhört, ob er jemanden beauftragt habe, Steine zu werfen. Sie
wollten gar nichts Besonders vom ihm wissen, sie wollten ihn nur für
eine Weile einsperren und ihm Furcht einjagen, ihm und allen, die die
Demonstrationen organisieren. Das ist Bilin 2009.
Die Leute, die die Verhaftung von Khatib, Abu Nizar
und Dutzenden seiner Kollegen befahlen, von denen einige noch immer in
Haft sind, wie z.B. der Taxifahrer Adib Abu Rahme, der schon seit zwei
Monaten im Gefängnis schmachtet, war nur deshalb angeklagt worden, weil
er ein Mitglied des Volkskomitees war. Diese (isr.) Leute sind
Dummköpfe, die aus der menschlichen Geschichte der Befreiungskämpfe
nicht eine Lektion gelernt haben. Sie glaubten, dies sei die Art und
Weise, wie man die Biliner Protestbewegung brechen kann, die – nach den
letzten Demonstrationen zu urteilen – im Laufe ihrer Aktionen nur größer
geworden ist.
Ich hatte die Möglichkeit, einen Blick in die
Gerichtsverhandlung über Khatib im Militärgericht zu werfen. Er war
nicht anwesend, weil der israelische Gefängnisdienst ihn zu dieser
Sitzung zu holen vergessen hatte). Ich sah den Armeeankläger mit Pathos
sprechen, dass man ihn in Haft behalten müsse - aus
„Sicherheitsgründen“. Genau wie meinen Vater und seine Freunde in
Warschau ,1968, als sie Demonstrationen gegen das Regime und für
Demokratie organisierten. Auch dort verhafteten die Behörden die Führer
des Protestes, um sie verschwinden zu lassen. Auch dort wurden die
Verhaftungen vor der Morgendämmerung gemacht. Auch dort waren es
Polizeioffiziere, die die Verhaftungen ausführten, Geheimdienstagenten,
die die Verhöre durchführten, Ankläger, die anklagten und Richter die
das Urteil sprachen. Und auch dort war jeder ein kleines, aber wichtiges
Zahnrad in einer großen Maschine, deren Zweck die Kontrolle und die
Unterdrückung von Millionen war.
Viele gute Israelis sind gegen die Besatzung, sind
aber bei jedem Versuch entrüstet, wenn man die Regierung, wie sie sich
in der Westbank zeigt, mit abscheulichen totalitären Regimen der
Geschichte vergleicht. Tatsächlich sind historische Vergleiche
gefährlich. Warschau etwa um 1968 ähnelt nicht Bilin 2009. Der Konflikt
ist anders, der Kampf ist anders, die Welt ist anders. Aber es gibt beim
Versuch, Menschen zu unterdrücken, etwas Gemeinsames. Und je mehr Zeit
vergeht, um so mehr überwiegt das Gemeinsame.
* Michaels Vater, Leon, wurde 1947 als Sohn von David
Sfard, einem jüdischer Dichter und Schriftsteller und Regina
Dreyer-Sfard, Professorin für Geschichte und Theorie des Films geboren.
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