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Sent: Wednesday, January 05, 2005 3:10 PM
JÜDISCHE ETHIK IM ISRAELISCH-PALÄSTINENSISCHEN KONFLIKT
Den Kreislauf der Gewalt beenden.
Ein Interview mit Marc H. Ellis
von Andrea Bistrich - 1 (November 2004)
Marc H. Ellis ist Universitätsprofessor und Direktor des 1999 von
ihm
gegründeten Zentrums für Amerikanische und Jüdische Studien an
der Baylor
University in Waco, Texas, USA. Er hat 15 Bücher verfasst; das
jüngste ist
2003 erschienen unter dem Titel: Israel and Palestine: Out of the
Ashes,
The
Search for Jewish Identity in the 21st Century. (Israel und
Palästina: Aus
der Asche erstanden, Die Suche nach einer jüdischen Identität im
21.
Jahrhundert - Anm. d. Übers.)
"Juden mit Gewissen" sind in Israel oder Amerika lebende Juden,
die das
historische jüdische Leid und das gegenwärtige palästinensische
Leid
erkennen und die Beendigung der israelischen Besetzung
palästinensischen
Landes fordern, um den Kreislauf der Gewalt zu beenden, der
wieder einmal
die ganze Region betrifft.
Ellis entwickelt die Vision eines Judentums, das sich bewusst zu
einem
ethischen Leben bekennt und auf den Prinzipien von Gerechtigkeit
und
Gemeinschaft beruht - das traditionelle Fundament des jüdischen
Glaubens.
Nur wenn die Juden wieder zu diesen ursprünglichen Prinzipien
zurückfinden,
die der militarisierte Staat Israel und das verbündete jüdische
Establishment in Amerika verloren haben, so Ellis, kann es
Hoffnung auf
einen künftigen Frieden geben. Indem Ellis über das Vermächtnis
des
Holocaust und das Bild der Juden als Opfer einerseits und als
Verfolger
andererseits hinausgeht, gelingt es ihm, eine neue Vision dessen
zu
entwickeln, was es heute heißt, jüdisch zu sein. Erzbischof
Desmond Tutu
hat
über Ellis gesagt, er liefere "einen entscheidenden Beitrag zur
Lösung der
wenigen verbleibenden hartnäckigen Probleme unserer Zeit".
Andrea Bistrich (= AB): Was meinen Sie, wenn Sie von "Juden mit
Gewissen"
sprechen?
Marc H. Ellis (= MHE): Damit meine ich Juden, die sich weigern,
die
Enteignung eines anderen Volkes - derzeit der Palästinenser - von
Land und
politischen Rechten anzuerkennen. Ich verwende den Begriff, um zu
hinterfragen, ob Juden, die dies zulassen oder gar rechtfertigen,
nach
ihrem
Gewissen handeln und für Gerechtigkeit eintreten.
Als "Jude mit Gewissen" versuche ich die Ungerechtigkeit zu
verstehen, die
im Namen der Juden und der jüdischen Geschichte ausgeübt wird,
und dagegen
anzugehen. Wie andere "Juden mit Gewissen" kämpfe ich gegen die
Vorstellung
eines "konstantinischen Judentums", das unsere Führer in Amerika
und
Israel
erfasst hat. Das konstantinische Judentum ist eine Form des
Judentums,
ähnlich wie das konstantinische Christentum, das der Idee von
Staat und
Macht anhängt. Mit der Gründung des Staates Israel und
einhergehend mit
der
Notwendigkeit, seine Unantastbarkeit und sein Territorium zu
verteidigen,
hat sich die jüdische Führung mit den Mächten Israel und Amerika
verbündet.
AB: Was sind die tieferen Ursachen für den Konflikt zwischen
Israel und
Palästina beziehungsweise dem Nahen Osten allgemein? Ist es ein
religiöses
Problem?
MHE: Es ist kein religiöses Problem. Es ist ein Kampf um Land und
politische Rechte. Israel ist bereits etabliert. Palästina sollte
im Gaza,
in der Westbank und in Ost-Jerusalem etabliert sein. Wenngleich
es auch
weiterhin Probleme im Nahen Osten geben wird, sollte dies doch
der erste
Schritt sein, damit die Probleme gelöst werden können.
AB: Angesichts dessen, dass die Juden im Holocaust so unendliches
Leid
erlitten haben, wie können sie heute die Unterdrücker eines
anderen Volkes
sein?
MHE: Eine gute Frage, auf die es keine Antwort zu geben scheint.
Ich
nähere mich ihr mit einer Tatsache an: Als Juden unterdrücken wir
ein
anderes Volk und vertiefen dadurch gleichzeitig auch unsere
eigenen
Wunden.
Wir Juden können nicht von unserem Trauma geheilt werden, indem
wir
anderen
Menschen Leid zufügen. Anstatt die Frage zu beantworten, möchte
ich den
Kreislauf der Gewalt beenden, so dass wir eine andere Frage in
einem neuen
und friedlichen Kontext stellen können. Dieser Kreislauf der
Gewalt kann
nur
mit der Gründung und Bevollmächtigung eines eigenen
palästinensischen
Staates beendet werden. Erst dann wird es möglich sein, ein
Programm zu
starten, das wirtschaftlichen und politischen Aufschwung bringt
und es
möglich macht, dass die Leute in einem demokratischen Staat in
Frieden und
Freundschaft mit den Nachbarn, einschließlich Israel, leben.
AB: Liegt in der Beendigung der Apartheid in Südafrika eine
Lektion für
Israel?
MHE: Ich weiß nicht, ob es eine solche Lektion gibt. Ich weiß
aber, dass
wir eine Apartheidsituation geschaffen haben. Die Apartheid in
Südafrika
ist
vorbei. Apartheid in Israel wird es noch lange geben. Wann genau
und wie
sie
beendet werden kann, geht wohl über meine Lebenszeit hinaus. Was
jedoch
heute zu meiner Zeit geschieht, ist das Ende einer jüdischen
Ethik und
ihrer
Weiterentwicklung. Damit meine ich die Ausübung von
Gerechtigkeit, die auf
einer besonderen historischen Situation sowie auf einem ständigen
Bemühen
darum beruht. Das Besondere der jüdischen Geschichte ist ihr
Fundament
einer
jüdischen Ethik, auf der Juden ihre Aktivitäten gründen und
gemeinsam mit
anderen Gemeinschaften zu Gerechtigkeit beitragen können.
AB: Wir alle wissen, dass der Holocaust zu verurteilen ist. Wenn
das
jüdische Volk jedoch weiterhin so vehement an der Erinnerung an
den
Holocaust festhält, wird es dann nicht blind für die
Möglichkeiten und
Perspektiven, die die Zukunft bereit hält? Gibt es nicht einen
Punkt, an
dem
der "Preis" endgültig beglichen ist?
MHE: Die Frage ist, wie mit der Erinnerung an das Leid umgegangen
wird.
Benutzen wir die Erinnerung an den Holocaust als ein grobes
Instrument
gegen
andere? Oder sehen wir den Holocaust als eine Brücke der
Solidarität mit
anderen Leidenden, insbesondere mit denen, die durch unser
Verschulden
leiden? Jede Gemeinschaft hat ihre Methoden, sich zu erinnern und
sich
Ausdruck zu verschaffen. Für Juden ist die Besinnung auf die
jüdische
Erfahrung, die auch das Leiden einschließt, essentiell.
Allerdings müssen
wir auch wissen, dass wir, haben wir einmal Macht, dazu
tendieren, sie
ebenso wie jedes andere Volk einsetzen. In diesem Sinne sind
beide Arten
der
Erinnerung wichtig, um unseren besonderen Weg fortzusetzen: sich
zu
erinnern, wie wir in der Vergangenheit gelitten haben, und wie
wir heute
einem anderen Volk Leid zufügen.
AB: Wie ist die derzeitige Lage in Israel? Demonstrieren die
Menschen
gegen die Misshandlung der Palästinenser?
MHE: Es gibt einige Juden mit Gewissen in Israel, und es gab auch
einige
Demonstrationen gegen Sharons Politik. Dennoch müssen wir
unterscheiden
zwischen jüdischen Israelis, die einen konsequenten Standpunkt
vertreten,
und solchen, die die Unterdrückung nur hier und da etwas mildern
wollen.
Daher differenziere ich zwischen progressiven Juden und Juden mit
Gewissen.
Ein Beispiel: Die meisten der "Rabbis für Menschenrechte",
insbesondere
ihr
Direktor Rabbi David Forman, sind progressive Juden, die sich für
die
Menschenrechte der Palästinenser, nicht aber für ihre politischen
Rechte
einsetzen. Wenngleich sie sich selbst als Gegner der israelischen
Politik
betrachten, funktionieren sie doch als politischer Arm des
Staates. Jeff
Halper dagegen setzt sich als Jude mit Gewissen ein, indem er
gleiche
politische Rechte für die Palästinenser fordert. Zwischen
progressiven
Juden
und Juden mit Gewissen gibt es also einen wesentlichen
Unterschied, denn
erstere meinen es mit der Gerechtigkeit für die Palästinenser
nicht
wirklich
ernst. "Juden mit Gewissen" lehnen es ab, jüdische
Schuldlosigkeit zu
proklamieren; sie erkennen Juden und Palästinenser konsequent als
gleichberechtigt an.
AB: Wie lassen sich die Lebensbedingungen zwischen Israelis und
Palästinensern verbessern?
MHE: Juden und Palästinenser mit Gewissen - in Israel und
anderswo -
sollten sich zusammentun. Es wird eine lange Wegstrecke
zurückzulegen
sein,
weit über die nächsten Jahrzehnte hinaus. Aber es ist es wert.
Vor allem
in
der Diaspora haben Juden und Palästinenser die Gelegenheit, sich
selbst
und
anderen zu zeigen, dass ein rassistisch und kulturell motivierter
Fanatismus
kontextuell bedingt ist, und dass Menschen verschiedenster
Herkunft dort,
wo
dieser negative Kontext nicht mehr vorhanden ist, friedlich
zusammenleben
können. Es gibt keinen anderen Weg, dies zu zeigen, als ihn
selbst zu
schaffen - in Form von Austausch, Studienzentren und gemeinsamen
Aktivitäten. Juden und Palästinenser müssen anfangen, miteinander
zu leben
und zu arbeiten, wo immer sie gerade sind, und mit einer
gemeinsamen
Stimme
solange für Gerechtigkeit einzutreten, bis Angriffe gegen einen
von ihnen
auch zu Angriffen gegen den anderen werden.
AB: Sie haben gesagt, dass die Ungerechtigkeit gegenüber den
Palästinensern nicht nur die Palästinenser betrifft, sondern auch
die
jüdische Identität verändert. Können Sie das etwas näher
erläutern?
MHE: Wir können derzeit das Ende der traditionellen jüdischen
Ethik und
Gerechtigkeit beobachten. In diesem Sinne verändert sich die
jüdische
Identität grundlegend. Auf lange Sicht gibt es keinen Grund,
jüdisch zu
sein, wenn es nicht für etwas, insbesondere für ein ethisches
System
steht,
das uns von anderen unterscheidet.
Die Palästinenser rütteln an den Grundfesten unserer Identität.
Daher
bedeutet heute ein gläubiger Jude zu sein, sich mit dem
palästinensischen
Volk solidarisch zu zeigen.
AB: Können Sie bereits einen Wandel in der Einstellung der Juden
zu den
Palästinensern beobachten?
MHE: Als Kollektiv betrachtet werden die Juden ihre Sicht auf die
Palästinenser wohl nicht verändern. Das ist für Juden aus der
Sicht einer
jüdischen Gemeinschaft wohl aussichtslos. "Juden mit Gewissen"
sind
grundsätzlich anderer Meinung. Sie haben Hoffnung auf eine
Zukunft. Obwohl
diese Gruppe nicht sehr groß ist, gibt es "Juden mit Gewissen"
praktisch
überall. Sie symbolisieren unsere Zukunft. Ob sie aber jemals zu
einer
politischen Kraft werden, ist eine andere Frage. Sollten sich die
Kräfteverhältnisse zwischen Israel und den Palästinensern oder
der
arabischen Welt ändern oder die Vereinigten Staaten ihre eigenen
Interessen
durch eine kontinuierliche Expansion Israels bedroht sehen, dann
wäre
Israel
möglicherweise zu Veränderungen gezwungen. Allerdings gehe ich
nicht davon
aus, dass dies tatsächlich geschehen wird, zumindest nicht in
naher
Zukunft.
AB: Was wäre Ihrer Meinung nach eine mögliche Lösung für eine
friedliche
Koexistenz von Israelis und Palästinensern?
MHE: Simpel: zwei Staaten für zwei Völker. Aber das geschieht
nicht.
Mein
Eindruck ist, dass sich der Kampf auf den Bereich der
Bürgerrechte
verschoben hat - innerhalb des expandierenden Staates Israel -
und mit
einer
fortwährenden Beschränkung des kulturellen, geographischen und
politischen
Raumes der Palästinenser einhergeht. Wenn Israel nicht
Hunderttausende,
vielleicht sogar Millionen Palästinenser vertreiben will, ist es
das
Schicksal von Juden und Palästinensern, zusammen zu leben. Die
politische
Herausforderung besteht darin, beiden Gemeinschaften aufzuzeigen,
dass sie
ihre schicksalsbedingte Situation als Möglichkeit zu einem
gemeinsamen und
produktiven Leben begreifen müssen. Aber auch das ist ein
Langzeitprojekt
und erfordert viel Mut.
AB: Kürzlich hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag
Israels
Mauer
zur Westbank für illegal erklärt, weil sie die Palästinenser in
ihrem
Recht
auf Selbstbestimmung behindert. Der Internationale Gerichtshof
hat den
sofortigen Stopp des Mauerbaus gefordert. Wird Israel diese
Entscheidung
akzeptieren?
MHE: Israel wird dieses Urteil nicht akzeptieren. Aber, um
ehrlich zu
sein, Israel braucht die Mauer nicht; es hat das Land bereits
eingenommen.
Die Fakten bleiben dieselben - mit oder ohne Mauer.
AB: Halten Sie einen Prozess der Integration zwischen Juden und
Palästinensern für möglich?
MHE: Integration und Auflösung gibt es ständig. Alles verändert
sich,
insbesondere das, was statisch zu werden scheint. Es wird keine
zwei
Staaten
geben, wir haben bereits einen Staat - wenn damit die Kontrolle
über eine
ganze Region gemeint ist. Israel kontrolliert ein Gebiet, das von
Tel Aviv
bis zum Jordan reicht, und das wird lange Zeit so bleiben. Manche
würden
vielleicht sagen, dass es einer solchen Haltung an Optimismus
fehlt.
Darauf
möchte ich erwidern, dass eine richtige Einschätzung der Realität
wesentlich
ist, und dass Hoffnung, wirkliche Hoffnung, aus einem
Realitätsverständnis
und dem Bemühen entsteht, eine Zukunft zu gestalten, die über die
gegenwärtigen Aussichten hinausgeht. Slogans, die keine
Berührungspunkte
zur
Realität haben, sind der Zukunft nicht zuträglich.
AB: Gibt es hoffnungsvolle Anzeichen, die darauf hindeuten, dass
der
Kreislauf der Gewalt ein Ende findet und sowohl Juden als auch
Palästinenser
eine bessere Zukunft vor sich haben?
MHE: Die Hoffnung ist unsere Gewähr - von Juden wie
Palästinensern -,
dass
der Kreislauf von Gewalt und Gräueltaten noch zu unseren
Lebzeiten
durchbrochen werden kann. Das heißt auch "nein" zu sagen zu jeder
Art von
rassistischem oder kolonialem Diskurs. Juden und Palästinenser
müssen
"nein"
sagen zu allem, was in ihrer eigenen Gemeinschaft Unterschiede
als
"anders"
deklariert. Juden und Palästinenser mit Gewissen müssen
angesichts der
gegenwärtigen politischen Lage - und darüber hinaus - ihr
Engagement
fortsetzen. Und dabei möglicherweise auch physisches und
kulturelles Exil
in
Kauf nehmen. Hier scheiden sich die Wege zum progressiven
Diskurs, der
lediglich die Unterdrückung zu kaschieren versucht. Es bedeutet
aber auch
eine Konfrontation mit der konservativen Vereinfachung der Dinge,
die
davon
ausgeht, dass der Kampf der Kulturen unvermeidlich und erklärbar
sei.
Viele
junge Juden und Palästinenser haben sich bereits von den Mustern
der
Vergangenheit freigemacht. Sie müssen ermutigt und unterstützt
werden.
Jüdische Stimme für gerechten
Frieden in Nahost (Österreich)
Viele fragen sich, was kann ich angesichts dieser politischen
Lage
überhaupt tun?
Gegen Unrecht kann man nicht dadurch ankämpfen,
dass man
darüber schweigt!
Informieren Sie Kollegen, Bekannte, Freunde!
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