Mag sein, dass ich bau in der
Luft meine Schlösser.
Mag sein, dass mein Gott ist im ganzen nicht da.
Im Traum ist mir heller, im Traum ist mir besser,
im Traum ist der Himmel noch blauer als blau.
Mag sein, dass ich werd’ mein Ziel nicht erreichen.
Mag sein, dass mein Schiff wird nicht kommen zum Steg.
S’geht mir nicht darum, ich soll was erreichen.
S’geht mir um den Gang auf einem sonnigen Weg.
Josef
Papiernikoff, 1924
Reuven Moskovitz
im November 04
Liebe Freundinnen und
Freunde,
Die Botschaft dieses Briefes trage
ich in meinen Gedanken und meinem Herzen seit unserem Neujahr
und Herbstfest. Objektiv gesehen leben auf der Welt sicher nicht
viele Menschen, die sich so bestätigt, geliebt und glücklich
fühlen können wie ich. Ihr wisst aber, dass ich diese Welt mit
einem weinenden und einem lachenden Auge betrachte. Ich bin
besessen von dem Wunsch, einen Gesang über allen Gesängen zu
singen über all das Schöne und das Glück, das es noch zwischen
den Menschen gibt und das auch mir geschenkt wird. Ich bin aber
auch durchdrungen von dem unwiderstehlichen Bedürfnis, einen
Aufschrei, ein Klagelied über soviel Unheil, das uns und die
ganze Welt bedroht, hören zu lassen. Ich weiß, dass ich nicht
der einzige bin, der mit offenen Augen und entsetzten Gefühlen
diesen Aufschrei macht oder machen will, viele sind dabei besser
und tüchtiger als ich - mit demselben Ergebnis: Wir sind Rufer -
nicht in der Wüste, sondern unser Ruf erreicht eine Oase von
Menschen, die nur halbherzig versuchen, bewusst dem Bösen
gegenüber Widerstand zu leisten. Die meisten dieser
Lebensliebenden und Friedfertigen wollen noch nicht wahrhaben,
dass das Böse die Welt regiert. Es gibt aber einen wesentlichen
Unterschied zwischen dem Bösen, das in der dritten Welt aus
religiösem Fundamentalismus, Machtgier, Armut und Unterdrückung
entsteht und in Gewalttaten und Terror zum Ausdruck kommt, - und
dem Bösen, das Demokratie und Freiheit als Feigenblatt ausnutzt,
um die Menschen auszubeuten und zu unterdrücken. Es herrscht in
Washington und Jerusalem, von diesen Städten aus wird die Welt
und der Nahe Osten regiert und eingeschüchtert. Es geht um zwei
rücksichtslose Brandstifter - Bush und Sharon. Sie sind nicht
die einzigen Schurken der Welt, aber sie handeln im Namen der
Demokratie und sind eindeutig gewählt von der Mehrheit ihres
Volkes - man müsste fragen, wie zwei so gefährliche Menschen
Mehrheiten finden konnten. Aber die Geschichte lehrt uns, dass
im Konflikt zwischen den Bösen und den Friedensuchenden nur die
Vertreter des Bösen es zielstrebig und aggressiv wagen ihre
Gewaltutopien zu verwirklichen. Sie sind leider auf dem
Vormarsch. Die Friedfertigen aber sind zögerlich und voll
Bedenken und daher nicht mit der notwendigen Entschlossenheit
bereit, ihre Vorstellungen und Grundwerte durchzusetzen. Es ist
tragisch, dass die friedfertigen Demokratien in West- und
Mitteleuropa, denen es gelungen ist, seit sechzig Jahren Frieden
und Wohlstand zu erhalten, sich schwankend und wie hypnotisiert
zeigen von den angeblichen Errungenschaften des Gewaltkonzepts.
Nach der Wiederwahl von Bush und angesichts der unheiligen
Allianz zwischen Bush und Sharon, sind die Weichen der Politik
im Nahen Osten weiter auf Gewalt gestellt. Der neue
Sharon-Trick, als Rückzug von Gaza bezeichnet, hätte nur Hand
und Fuß, wenn er als erster Schritt gewollt wäre zur Räumung der
Westbank und zur Schaffung eines palästinensischen Staates in
den Grenzen vor 1967. Weil Sharon das nicht beabsichtigt und
Bush ihn dazu nicht zwingen wird, wird das schreckliche Gemetzel
im "gelobten Land" weiter eskalieren. Leider verstehen nur
wenige Politiker in Europa, dass nur eine Abnabelung von der
amerikanischen Politik die Welt noch retten kann vor einer
Restauration, die vor hat, die Grundwerte der EU und der
Vereinten Nationen über Bord zu werfen.
Nun ist aber durch Arafats Tod eine neue Situation entstanden.
Dieser Mensch machte viele schwere Fehler, doch hat er immer aus
voller Seele die Freiheitsbestrebungen der Palästinenser
vertreten und es gewagt, Israel in den Grenzen von 1967
anzuerkennen. Auch wenn dieser Mensch trauriger und tragischer
Weise bis zuletzt so verleumdet, ja dämonisiert wurde, versuche
ich in diesem Moment einen Schimmer von Hoffnung zu sehen. Meine
israelischen Machthaber, treu ihrer herzlosen Politik Arafat und
den Palästinensern gegenüber, zeigen angesichts der Tragödie
dieses Menschen und seines Volkes offensichtlich Freude. Sie
verletzen damit eine alte jüdische Regel: "Auch wenn Dein Feind
fällt, darfst Du Dich nicht freuen!". In der Frage der
Begräbnisstätte von Arafat wäre es eine Geste der Achtung von
Seiten der Israelis gewesen, den Palästinensern zu erlauben, ihn
auf dem Tempelberg Areal beizusetzen wie andere historische
Würdenträger, so wie es dem tiefen Wunsch seines Volkes
entsprach. Für unsere führenden Politiker kam das nicht in
Frage, was eine weitere tiefe Verletzung der Würde des sowieso
gedemütigten Volks bedeutete. Auch aus der Welt, weder aus der
EU, noch Amerika oder von den Vereinten Nationen wurde ein
nachdrücklicher Versuch gemacht, die Einstellung der
israelischen Politiker in dieser Frage zu beeinflussen. Das wäre
eine humanitäre Geste gewesen, mit der eine hoffnungsvolle
politische Entwicklung hätte eingeleitet werden können. Es ist
wiederholt bekannt gegeben worden in der Presse, dass alle
Gruppierungen des palästinensischen Widerstandes versuchen, sich
zu einigen, um einen Bürgerkrieg zu vermeiden. Solch eine Geste
hätte helfen können, den verbrecherischen fundamentalistischen
Terror zu stoppen.
Ich reise zur Zeit kreuz und quer
durch Deutschland, begegne Hunderten von Erwachsenen und
Schülern und rufe sie auf, die Mauern des Schweigens zu
durchbrechen, die das Unrecht der israelischen Politik umgeben.
Sie hören mir begeistert zu, aber nicht viele lassen ab von
ihrer festgefahrenen Überzeugung, dass "wir Deutschen angesichts
unserer Vergangenheit nichts tun können - nur die Amerikaner
könnten es tun". Die Amerikaner haben aber nichts getan, und
nach der Wiederwahl von Bush wird es noch unwahrscheinlicher.
Diese Einstellung verhindert aber die Bereitschaft, einen
wirksamen Druck auf Sharon auszuüben, um die Roadmap richtig
anzukurbeln. Der bisherige Umgang mit der Roadmap schien den
Wagen vor die Pferde zu spannen: Anstatt einen klaren Fahrplan
mit internationaler Verbindlichkeit vorzugeben, mit Terminen der
Räumung der Gebiete und Stationen der Selbstbestimmung, wurde
auf grausame und aussichtslose Weise versucht, den
palästinensischen Widerstand zu brechen und die Führer auf die
Knie zu zwingen oder gar zu ermorden. So wurde der Terror
ausgeweitet und die Roadmap blieb im Sand stecken. Da eine
überwiegende Mehrheit in Israel fest überzeugt ist, dass ein
Rückzug auf die Grenzen von vor 1967 bedeuten würde, dass "wir
vor den Toren von Auschwitz stehen", wird er auch nicht in
Angriff genommen. Es bleibt immer dabei, dass auf den Schultern
Europas die Verantwortung und die Kraft liegt, den Terror durch
versöhnliche Schritte und nicht durch kollektive Bestrafung des
ganzen palästinensischen Volkes zu stoppen. Wenn Deutschland die
Gunst der Stunde und seinen Einfluss in diesem Sinne nutzen
würde, könnte das ein großer Moment seiner Geschichte sein. Nach
dem Tod Arafats beschwören die Schlagzeilen "das Ende der Ära
Arafats". Wer dieses Ende ehrlich wünscht, muss aufrufen zur
Beendung der Ära der israelischen Machthaber, die seit der
Staatsgründung erfolglos versuchen, eine absolute Sicherheit zu
erreichen durch die Verweigerung des palästinensischen
Selbstbestimmungsrechtes.
Vorausgesetzt, dass ich weiter
gesund bleibe, habe ich vor, einen Friedensmarsch zu machen von
Brüssel nach Hannover. In Hannover könnte man zum Beginn des
Evangelischen Kirchentages, am 26.Mai, eintreffen. Weil so eine
Aktion eine komplizierte Organisation und Logistik erfordert,
wende ich mich an alle meine Freunde und Friedensinitiativen,
mir zu helfen, dieses Vorhaben zu einem erfolgreichen Ende zu
bringen. Obendrein möchte ich die Freunde, die mich dabei
unterstützen wollen, sehr bitten, sich vorher bei der Leitung
des Kirchentages dafür einzusetzen, mir während der Tage Raum
und Zeit zu gewähren, um mein Anliegen öffentlich zu machen.
Meine Dankbarkeit all den Freunden
gegenüber, die mir mit großer Aufmerksamkeit und Liebe helfen,
kann ich kaum ausdrücken. Alle zu erwähnen, brauchte viel mehr
als eine weitere Seite dieses Briefes.
Ich wünsche Euch frohe und
friedliche Feiertage.
In tiefer Verbundenheit
Reuven
im Advent 2004
Reuven
Moskovitz (*1928) ist Historiker und Mitbegründer
des Friedensdorfes Neve Shalom/Wahat Salam in Israel. Seit
Jahrzehnten ist er aktiv in der Friedensbewegung und um die
Verständigung
und Aussöhnung
zwischen Palästinensern
und Israeli, aber auch um die deutsch-israelische Versöhnung
bemüht.
Er ist Preisträger
des Mount Sion Award 2001 und des internationalen Aachener
Friedenspreises 2003. Von seinem Buch "Der lange Weg zum
Frieden" gibt es die vierte Auflage.
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