Liebe
Freundinnen und Freunde,
Reuven Moskovitz, Juni 2005
Mit
leichter Ironie wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass ich meine
Freundinnen und Freunde nicht nur mit meinen Weihnachtsbriefen
‚bereichere‘, sondern nun auch mit Oster-, Pfingst - oder solchen
Briefen, die meine Empörung zu Ausdruck bringen z.B.
über den
‚Auschwitzkult‘ und den ‚Erinnerungskult‘
Seit mehreren Monaten ist die öffentliche Meinung in Israel und
Deutschland beschäftigt mit Auschwitz- und Holocaustgedenken, mit
Erinnerungen an Israels Staatsgründung an 60 Jahre Kriegsende und 40
Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel,
Ich möchte unterscheiden zwischen einer Erinnerungskultur,
die für jedes Volk und jeden Staat wichtig ist, und einem Erinnerungskult.
Die Veranstaltungen zum Gedächtnis an Auschwitz und Holocaust in der
UNO, in Jerusalem und sicherlich auch anderswo, und dazu noch die
Einweihungsszenarien der neuen Gedenkstätte in Jerusalem und des
Denkmals in Berlin scheinen mir eine Banalisierung, wenn nicht
Vulgarisierung der gewünschten Erinnerungskultur zu sein.
Bin ich der Einzige, der argwöhnisch immer wieder eine
Instrumentalisierung wahrnimmt – und darüber hinaus eine so entstehende
eigenartige privilegierte Behandlung? Demokratisch bewusste deutsche
Bürger könnten sich fragen, warum die Sicherheit des israelischen
Staatspräsidenten viel wichtiger ist als die Sicherheit der ganzen
politischen Führung Deutschlands. In Berlin blieb zum Beispiel der
Charlottenburger Schlosspark mehrere Tage für die Bürger geschlossen,
nur weil der israelische Staatspräsident und andere jüdische Prominenz
sich an den Feierlichkeiten zu den 40 Jahren diplomatischer Beziehungen
zwischen Israel und Deutschland beteiligten. Demgegenüber konnte auf dem
Kirchentag in Hannover, an dem mehr als hunderttausend Menschen
teilnahmen, jeder Anwesende den Vorträgen fast der gesamten deutschen
politischen Prominenz frei und ungehindert beiwohnen.
Deutsche Bürger haben dieses merkwürdige Missverhältnis
anscheinend nicht wahrgenommen und die Medien haben es auch nicht
kommentiert. Bedeutet das, dass die deutsche Öffentlichkeit nicht nur
das Selbstverständnis der israelischen Sicherheitsbedürfnisse übernommen
hat, sondern auch die Auffassung führender israelischer Politiker, dass
der palästinensische Terror sich gegen Juden wendet, nur weil sie Juden
sind?
Damit wird die Tatsache, dass der Staatspräsident einen Staat
vertritt, der ein anderes Volk unterdrückt und seiner politischen und
bürgerlichen Freiheit beraubt, völlig ausgeklammert.
Wer von den anwesenden VIPs hätte gewagt, bei diesen Gedenkfeiern
über das neue Unrecht an neuen Opfern zu sprechen – ausgeübt durch die
Opfer von damals?
Nun, um wieder zu meinen gegenwärtigen Überlegungen und Zweifeln
zu kommen.
Ich muß mich dazu bekennen, dass ich manche Hindernisse auf dem
Weg zum Frieden falsch eingeschätzt habe. Ich habe nicht geahnt, wie
sehr außer dem kalten Krieg, auch die Restaurationszüge des
Neokonservatismus und Neoliberalismus von amerikanischen Präsidenten wie
Reagan, zum Höhepunkt gekommen in der Politik von Bush Junior, die
Eskalation des Konfliktes beeinflußt haben. Ich habe falsch eingeschätzt
nicht nur die israelische Holocaust-Identität als Stützpunkt der Gewalt
und annexionistischen Politik, sondern auch die deutsche
Schuld-Identität, die raffiniert und brutal eingesetzt wurde um die
deutsche Außenpolitik im Nahost-Konflikt zu einer verhängnisvollen
Verlegenheit und Lähmung zu bewegen. Das Schuld-Syndrom, zusätzlich zu
falschen real-politischen Überlegungen, hat auch Staaten wie Frankreich
und England heimgesucht. Auffallend aber, und konsequent, hat sich die
Bundesrepublik Deutschland dafür eingesetzt, klare und wirksame
politische Schritte zu vermeiden, um die israelische Gewalt und den
Annexions-Wahnsinn wirksam in die Schranken zu weisen. Dieses
Schuld-Syndrom findet sich auch den Kirchen, den meisten intellektuellen
Kreisen und höchst wahrscheinlich einer Mehrheit des deutschen Volkes.
Dieses ist mir mehr und mehr bewusst geworden seit meiner Entscheidung,
nicht nur über den langen Weg zum Frieden, sondern über den langen Weg
zur Wahrheit zu sprechen. Das Schuld-Syndrom und die Angst als Antisemit
verunglimpft zu werden, verhindern offensichtlich in Deutschland eine
nüchterne und rationelle Einschätzung der israelischen Politik, die
hauptverantwortlich ist für die Eskalation der Gewalt und Gegengewalt,
mindestens seit dem dramatischen Besuch von Sadat in Jerusalem 1977. Ich
bin oft erstaunt und erschüttert von dem Unbehagen, mit welchem viele
Deutsche, unterdessen auch nicht wenige meiner Freunde, auf meine
scharfe und klare Kritik reagieren. Die vielen Bemühungen, meine Stimme
auf dem Kirchentag in Hannover hören zu lassen und die zu lange
verzögerte Zustimmung, mir ein entsprechendes Podium zur Verfügung zu
stellen, haben meine Zweifel über die Wirksamkeit meiner langjährigen
Versuche, die oben genannte Verlegenheit und Lähmung zu beseitigen,
bestätigt.
Seit langem wurde die Frage der jüdisch-deutsche Symbiose
thematisiert. Meiner Meinung nach ist es falsch über eine Symbiose
zwischen Völkern zu sprechen. Im Bereich der Kulturidentität hat sie
ohne Zweifel stattgefunden. Ein sehr guter und zuverlässiger
Schriftsteller, Amos Elon, stellt in seinem neuen Buch fest, dass man
nur über ein Requiem der jüdisch-deutschen Symbiose sprechen kann. In
der Gegenwart neige ich dazu festzustellen, dass die einzige
deutsch-jüdische Symbiose zum Ausdruck kommt in der
post-nationalsozialistischen jüdischen und deutschen Identität. Für
Juden ist der Holocaust ein wichtiger Bestandteil der nationalen
Identität und für Deutsche ist das die Schuld-Identität. Zweifellos
führt diese Schuld-Identität dazu, dass kein Mensch in Deutschland die
Tatsache, dass 60 Jahre nach der Befreiung, im neu eröffneten Holocaust
Museum, keine Mini-Ecke zur Würdigung des deutschen Widerstands gegen
die Nazis gefunden wurde, in Frage stellt.
Nun schreibe ich diese Zeilen am 5. Juni 2005 - 38 Jahre nach dem
Sechstage Krieg. Noch heute ist der Großteil meines Volkes überzeugt,
dass wir damals von Ägypten, Syrien und Jordanien angegriffen worden
sind. Genauso denken auch Menschen in Deutschland, wenn sie sich
überhaupt noch an diesen Krieg erinnern. Die Wahrheit aber bleibt
Wahrheit auch, wenn sie in Vergessenheit gerät oder durch raffinierte
Lügen manipuliert wird.
Entsprechend der
festgefahrenen Tradition des ‚Erinnerungskults‘ wird in Israel,
vielleicht auch in Deutschland, daran erinnert, dass, hätte Israel
diesen glänzenden Sieg nicht errungen, die Juden in Israel vor dem
totalen Untergang gestanden hätten. Die fast unerträgliche Wahrheit
jedoch ist, dass der Rausch und die Euphorie des Siegens, die
Maßlosigkeit der Erwartungen an ausgeweitete Grenzen (auf Kosten von
Palästina und den arabischen Nachbarn) zu politischem Wahnsinn und
blutiger Gewalt und Gegengewalt geführt haben. Hinter diesem
zerstörerischen Wahn der militärischen Supermacht im Nahen Osten, der
geduldet wird von dem demokratischen und friedfertigen Teil der Welt,
wie auch hinter der unsinnigen Erwartung, absolute Sicherheit erreichen
zu wollen durch Gewalt und nur durch Gewalt, lauert die Gefahr des
Untergangs Israels.
Man kann mir hundert
mal sagen, dass nur Amerika imstande ist, die Politik Israels in die
Schranken zu weisen. Ich werde hundertfünfzig mal erwidern, dass sich
Europa von der amerikanischen Politik abnabeln und Deutschland,
Frankreich und Spanien die Führungsrolle dabei übernehmen müssen. Dass
es inzwischen in der Europäischen Union kriselt, könnte ein Anzeichen
dafür sein, dass die bewunderungswürdigen 60 Jahre Geschichte von
Frieden, sozialer Demokratie und Menschenrechten zu einem tragischen
Ende kommen können. Ich bin mir nicht sicher, ob die politischen und
militärischen Weichen in Europa für noch weitere 60 Jahre von Frieden
und Achtung vor Menschenrechte weiterhin richtig gestellt sind. In
Deutschland scheinen sich ‚Thatcherismus’, der globalisierte
Neokonservatismus und Neoliberalismus auf einem besorgniserregenden
Triumphmarsch zu befinden.
Werden die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Kräfte, die
die Bundesrepublik in den vergangenen 60 Jahren gestaltet haben, Kraft
und Mut genug haben,um wirksam gegenzusteuern?
Reuven Moskovitz
|