Plädoyer für
die Überwindung des Zionismus mit jüdischen Werten
Rolf
Verleger unterzieht in seinem neuen Buch Israels Politik einer
radikalen Kritik und hofft auf eine Erneuerung des Judentums
Arn Strohmeyer
Der
deutsche Mehrheitsdiskurs über den Konflikt zwischen Israel und
den Palästinensern leidet vor allem daran, dass jede Kritik an
der brutalen und völkerrechtswidrigen Besatzung, der
Unterdrückung eines ganzen Volkes und der sich permanent
wiederholenden Bombardierung eingeschlossener
Bevölkerungsgruppen sofort unter den Antisemitismusvorwurf
gestellt wird. Das Ziel eines solchen Vorgehens, das immer mehr
inquisitorische, denunziatorische, also rufmörderische Züge
annimmt, ist neben der Verschleierung dieser Untaten die
Aufrechterhaltung eines Idealbildes von Israel, das mit der
Wirklichkeit dieses Staates wenig oder nichts zu tun hat. Einer,
der sich seit Jahren darum bemüht, dieses Israelbild zu
korrigieren und die Debatte in Deutschland in rationalere Bahnen
zu lenken, ist der deutsch-jüdische Neurologe und Publizist Rolf
Verleger, einer der mutigsten und kompromisslosesten Kritiker
des Zionismus und Streiter für eine humane Lösung der scheinbar
unendlichen Tragödie im Nahen Osten.
Rolf Verleger
hat nun ein neues Buch vorgelegt, das die extremen Spannbreite
des Judentums beleuchtet – eben Werte wie Nächstenliebe und
Gerechtigkeit auf der einen und radikaler Nationalismus auf der
anderen Seite. Wobei es eben die Tragik Israels ist (und das ist
immer wieder Verlegers Thema), dass der israelische Chauvinismus
den humanen Anteil, den es im Judentum auch gibt, völlig
verdrängt hat. Humanität gibt es im Zionismus nur gegenüber der
eigenen Ethnie, nicht aber gegenüber den „Anderen“, den
Palästinensern. Es ist der Kampf zweier Linien, die es im
Judentum von Anfang an gegeben hat: die Spaltung in die
Vertreter eines ethnischen Stammesdenkens (nationalistischer
Partikularismus) oder weltoffener Universalismus.
Die jeweiligen
Zeitumstände entscheiden darüber, welche Richtung gerade die
Oberhand behält. Der deutsch-jüdische Psychoanalytiker Erich
Fromm sah noch die universalistische Richtung klar im Vorteil:
„Das radikale humanistische Denken kennzeichnet die
Hauptentwicklungsstufen der jüdischen Überlieferung, während die
konservative nationalistische Richtung das relativ unverändert
Relikt aus älterer Zeit ist und nie an der progressiven
Evolution des jüdischen Denkens und seinem Beitrag an den
universalen menschlichen Werten einen Anteil hatte.“
Historisch
stellt sich dieser Vorgang so dar: Im Alten Testament
(Hebräische Bibel) überwiegt das ethnisch-politische Element mit
einem durchaus kriegerischen Gottesbild im jüdischen Begriff von
„Israel“ (so der Theologe Peter Bingel), denn Jahwe befiehlt
„seinem Volk“ die gewaltsame Landnahme und die Ausrottung ganzer
Völker. Die humanistisch-universalen Werte werden vor allem von
den Propheten vertreten, später von Rabbinern wie etwa Hillel.
Die politisch-ethnisch-kriegerische Seite des Judentums tritt
nach den Niederlagen in den Kämpfen gegen die Römer für viele
Jahrhunderte – die Zeit der Gesamtdiaspora von 70 bis etwa 1850
n.u.Z. – in den Hintergrund und erscheint erst unter Berufung
auf die Hebräische Bibel mit dem eigentlich säkularen Zionismus
und der fortschreitenden Kolonisierung des historischen
Palästina und erst recht nach der Gründung des Staates Israel
wieder auf der historischen Bühne.
Durch diese
Entwicklung – also die partikularistischen Anforderungen des
Staates Israel und auch durch das Andenken an den Holocaust –
ist der jüdische Universalismus verdrängt worden, der im 19.
Jahrhundert durch die Emanzipation der Juden in den europäischen
Gesellschaften dominant gewesen war. Die Abwendung vom
Universalismus und der Prozess der Bildung eines radikalen
Nationalismus ist heute in der israelischen Gesellschaft so weit
fortgeschritten, dass Vertreter der Menschenrechte und des
Völkerrechts in diesem Staat (ähnlich wie in Deutschland, wenn
es um Israels Politik geht) als „Verräter“ an den Pranger
gestellt werden, was die israelische Soziologin Eva Illouz in
ihrem Buch „Israel“ zu der Bemerkung veranlasst, dass dies den
moralischen Bankrott des organisierten Judentums und Israels
bedeute.
Rolf Verleger
sieht diese verhängnisvolle Entwicklung in Israel als
engagierter Universalist genauso. Man spürt förmlich sein Leiden
an diesem Staat, der für sich in Anspruch nimmt, für alle Juden
der Welt zu sprechen, wenn er schreibt: „Heute werden solche
klaren moralischen Vorgaben [etwa, dass Mord keine politische
Waffe sein darf] für immer größere Teile des religiösen
Judentums zum Auslaufmodell, zum Überbleibsel eines
diasporabedingten Untertanengeistes. Dies ist aber eine Abkehr
von den humanistischen Traditionen des Judentums.“
Über den
zionistischen Staat Israel schreibt er: „Die Zionisten sehen mit
Stolz, dass ein Teil ihrer Vision Realität geworden ist. Israel
ist entstanden – ein Staat, in dem Juden die dominierende
Mehrheit stellen. Leider ging dies auf Kosten des zweiten Teils
der Vision: Israel ist nicht zu einem Staat geworden, der so ist
wie andere. Denn kein anderes zivilisiertes Land auf der Welt
hat ein System der ethnisch abgestuften Demokratie, mit
Militärdiktatur und Einsperrung von Millionen Menschen. Nun geht
es um Erhaltung des Status quo und Schutz vor der eingebildeten
oder auch realen Bedrohung durch islamische Staaten aufgrund des
ungelösten Palästinaproblems.“
Verleger
beschreibt in seinem Buch etwas, das nur wenige Bücher über
Israel/Palästina thematisieren. Er geht ausführlich auf die
Geschichte der Juden im zaristischen Russland und in der
Sowjetunion nach der Oktoberrevolution ein. Denn ohne die
Kenntnis der religiösen und politischen Gruppen und Fraktionen
der dort lebenden Juden, die das größte Kontingent der
Einwanderung nach Palästina stellten, ist die Geschichte Israels
gar nicht zu verstehen. Denn alle diese Organisationen, die
schon auf russischem Boden eine so wichtige Rolle gespielt
haben, finden ihre Fortsetzung im „jüdischen“ Staat Israel.
Neben den
Rechts-Zionisten (Likud und andere Parteien im zersplitterten
israelischen Parteiensystem), die das Projekt Groß-Israel
betreiben, das Staatsgebiet auf das Westjordanland ausweiten und
die dortige Bevölkerung verdrängen (sprich: vertreiben) wollen,
sind vor allem die religiösen Nationalisten zu nennen. Deren
Siedler-Ideologie, die Religion und Zionismus vereint, hat die
Vision, dass die Erlösung durch die jüdische Besiedlung von
Eretz-Israel erreicht werden kann. Verleger schreibt sarkastisch
über diese Richtung: „Diese rassistische Ideologie der Apartheid
im frommen Gewande ist nun also das Begeisterndste für das
Judentum in seinem jüdischen Staat im 21. Jahrhundert.“
Verleger hält
dieser menschenverachtenden Ideologie der Nationalreligiösen das
humane Bekenntnis des deutschen Juden Leo Baeck aus dem Jahr
1905 entgegen: „Das Judentum hat den Mitmenschen geschaffen. Und
damit auch den Begriff der Humanität, (…) des Verständnisses für
das Leben des Nebenmenschen, der Achtung vor der Menschenwürde,
der Ehrfurcht vor dem Göttlichen in allem, was Menschenantlitz
trägt.“ Für diese extremistischen jüdischen Siedler-Chauvinisten
hat Verleger nur die verächtliche Bemerkung übrig: Sie sind zur
„Pest des Judentums“ geworden. Es gibt in Israel nur eine
einzige Partei, die noch die Fahne der Menschenrechte im
Parlament hochhält: die Linkssozialisten der Merez. Aber mit
ihren fünf Prozent Wählerstimmen sind sie so gut wie unbedeutend
im politischen Spiel des Landes.
An dieser
Stelle sei ein kritischer Einschub erlaubt. Verlegers Engagement
für die Realisierung humanistischer Werte in der Politik ganz
allgemein, besonders aber im Konflikt Israels mit den
Palästinensern ist natürlich vorbehaltlos zuzustimmen, mit was
sonst könnte man dieser brutalen Politik entgegentreten? Die
amerikanisch-jüdische Philosophin Judith Butler gibt aber zu
bedenken, dass die Berufung auf ausschließlich jüdische Werte –
wie Verleger es tut – ihre Problematik hat. Sie argumentiert,
dass wesentliche jüdische Überlieferungen Widerstand gegen
staatliche Gewalt und koloniale Vertreibung und Beherrschung
nicht nur zuließen, sondern sie sogar verlangten. In diesem Fall
könne man sich auf ein anderes Jüdisch-Sein berufen als das, in
dessen Name der israelische Staat zu sprechen behaupte.
Judith Butler
sieht die Kritiker der israelischen Politik, die sich auf
jüdische Werte berufen, dennoch in einer Zwickmühle. Aus der
Religion gewonnene Werte machten zum einen immer einen
„Übersetzungsprozess“ durch, wenn sie in die Vernunftsphäre der
Aufklärung übertragen werden. Sie sind also dort angekommen
nicht mehr dieselben wie am Ursprung. Zudem schreibt sie:
„Tatsächlich erweitert noch die Kritik des Zionismus, wenn sie
exklusiv jüdisch ist, die jüdische Hegemonie im Nachdenken über
diese Region und wird gegen ihren Willen Teil dessen, was wir
den Zionistischen Effekt nennen können. Alles, was die jüdische
Hegemonie in der Region erweitert, ist Teil des Zionistischen
Effekts, ganz gleich, ob es sich als zionistisch oder
antizionistisch begreift oder nicht.“
Mit anderen
Worten: Jede jüdische Kritik an der zionistischen Politik
verlässt nicht den zionistischen Rahmen. An anderer Stelle
schreibt Butler: „Soll die Kritik am Zionismus jedoch effektiv
und substanziell sein, muss dieser Anspruch auf eine
Sonderstellung zugunsten fundamentalerer demokratischer Werte
zurückgewiesen werden. Verleger geht auf diese Problematik nicht
ein, es wäre aber interessant, seine Position zu dieser Frage zu
erfahren.
Sein Buch ist
ein leidenschaftliches Plädoyer für einen anderen Staat Israel,
aber auch ein anderes Judentum – eins, in dem die ethischen
Werte wie Nächstenliebe, Respekt vor dem Anderen und
Gerechtigkeit wieder volle Bedeutung haben. Die israelische
Soziologin Eva Illouz sagt es ähnlich: „Mehr denn je müssen
Israel und Judentum das Erbe aufgeklärter Juden fortführen,
indem sie den Universalismus zu Israels moralischem Horizont
machen.“ Das würde aber bedeuten, dass sich der Kampf der beiden
Linien des Judentums – ethnischer Chauvinismus bzw exklusive
Abschottung einerseits und Universalismus andererseits –
zugunsten des letzteren entscheiden würde.
Anzeichen für
eine solche Wende im Judentum gibt es nicht. Im Gegenteil: Die
ideologische Spaltung in diese beiden Strömungen spitzt sich
eher zu, wobei die Grenze nicht zwischen Religiösen und
Säkularen oder zwischen Israelis und nicht-israelischen Juden
verläuft, es gibt Überschneidungen aber die Spaltung ist dennoch
radikal. Sie ist so radikal, dass man von einer tiefen Krise des
Judentums sprechen kann – einer Krise, an der das Judentum – so
der britisch-jüdische Philosoph Brian Klug – zerbrechen kann.
Rolf Verleger
hat ein äußerst informatives und aufklärerisches Buch zum
Verständnis der jüdischen Krise der Gegenwart geschrieben, in
dessen Mittelpunkt der Staat Israel mit seiner verhängnisvollen
Politik steht. Es ist zu hoffen, dass dieses Buch ein wichtiger
Beitrag wird, die völlig verzerrten Koordinaten im deutschen
Diskurs über Israel und das Judentum gerade zu rücken. Die
Debatte hierzulande hat das bitter nötig.
Rolf
Verleger: Hundert Jahre Heimatland. Judentum und Israel zwischen
Nächstenliebe und Nationalismus, Westend-Verlag Frankfurt/ Main,
ISBN 978-3-86489-186-1,
8.01.2018