Texte von Viktoria
Buch
Warum sind sie Kollaborateure?
Viktoria Buch, Jerusalem, 2.4.05
Das folgende
Paradox wundert mich immer wieder.
Warum
unterstützt der größte Teil der Israelis die Besatzung?
(wörtlich übersetzt: Warum sind sie Kollaborateure der Besatzung
?) Die meisten von ihnen sind überhaupt nicht begeistert vom
Siedlungsunternehmen. Man hört sie oft sagen: „Ich unterstütze
die Siedler nicht“, „Ich würde schnell - um des Friedens willen
- die Gebiete aufgeben“ . Und da es einen nationalistischen
Publicityrummel in Israel gibt, sind solche Aussagen begrenzt.
Während der ersten beiden Jahre der Intifada begleitete ich
Palästinenser, die dringend medizinische Versorgung
brauchten, zu israelischen Krankenhäusern. Wenn es erst mal
gelang, bis dorthin zu kommen, versuchten viele Israelis, ihnen
wirklich und echt zu helfen. In alltäglichen Situationen kann
man viel Anständigkeit, Großzügigkeit und menschliche Wärme in
Israel finden.
Doch dienen
die Söhne derselben Leute in der Armee, gefährden ihr Leben in
den besetzten Gebieten und schießen auf Palästinenser, wenn man
ihnen das befiehlt.
Zum
Beispiel: Seit Beginn der Intifada ist die
israelische Armee damit beschäftigt, systematisch den
Gazastreifen zu verwüsten. Nicht nur als Reaktion auf Angriffe
auf Sderot – die Qassams sind ein verhältnismäßig neues
Phänomen. Seit Jahren, noch vor den Qassams, können die
Militäraktivitäten im Gazastreifen nur als Offensive beschrieben
werden. Militärische Invasionen geschahen alle paar Wochen ,
eine Reihe von Angriffen auf dicht bevölkerte palästinensische
Wohnviertel, wo die Menschen keine Möglichkeit haben, sich zu
verbergen und nirgendwo hin fliehen können. Die Felder wurden
zerstört – mehr als die Hälfte des landwirtschaftlich
bearbeiteten Landes wurde mit Bulldozern zerstört. Und massive
Hauszerstörungen fanden statt – Zehntausende von Menschen wurden
obdachlos. All dies aus dem Grund, damit ein paar Tausend
Siedler Grundbesitz in Gaza halten können (Diese
Gazasiedler, die vermutlich im Juli evakuiert werden sollen)
Warum beteiligen sich israelische Soldaten an dieser
Schurkerei?
Ähnliche
Fragen können in Verbindung mit den vor kurzem
wirtschaftlichen Elend gestellt werden, das einen großen Teil
der israelischen Bevölkerung betrifft. Warum gibt es keine
spürbare Opposition gegen diese Wirtschaftspolitik. Israel ist
bankrott; die Staatsgelder werden zur Verstärkung der Besatzung
verwendet und zum Bau grandioser Projekte –
Siedlungserweiterung, die Mauer, ein irrsinniges System von
Straßen und Tunnel , um das Leben der Siedler angenehm zu machen
und das palästinensische Leben unmöglich. In allen anderen
öffentlichen Sektoren wie Gesundheit, soziale Dienste, Bildung
und Erziehung, wurden Budgetkürzungen durchgesetzt.
Kürzlich wurden auch große Kürzungen am Universitätsbudget
verkündigt. Die Reaktion meiner Kollegen war schwach. In der
Vergangenheit pflegten diese Kollegen wegen kleinerer
Gehaltskürzungen Streiks zu organisieren.
Es gibt
nirgendwo eine ernsthafte Opposition der Regierung. Sharon wird
gewöhnlich eher als Gegner der Siedler und als Friedensmensch
wahrgenommen, denn als Chef der Siedler. Bei einer Demo
der „Frauen in Schwarz“ hörte ich, wie hoch gebildete Frauen
sich staunend fragten: „Kannst du glauben, dass sich Sharon so
verändert hat.“ Warum sind – um Gottes willen – intelligente
Leute wieder bereit, an die guten Absichten eines alten Mannes
zu glauben, dessen lebenslange Aktivitäten voller Rassismus,
Brutalität, schamlosen Lügen und offenkundigem Desinteresse an
menschlichem Leben sind.
Natürlich
ist es nicht ungewöhnlich, dass normale Leute schändliche
Führer wählen und deren Pläne ausführen – im 21. Jahrhundert ist
es genau so wie zu allen Zeiten in der Geschichte – hier genau
so wie anderswo. Warum haben die US-Bürger Präsident Bush wieder
gewählt? Warum haben die Italiener einen offensichtlichen Gauner
gewählt? Warum sind die Amerikaner und die Briten so
bereitwillig, im Irak zu töten und zu sterben, und die Russen in
Tschetschenien. Sehen sie den nicht, dass sie auf diese Weise
den Terror fördern und nicht bekämpfen und dass sie selbst
diejenigen sind, die in diesem Prozess die Terrorakte ausführen?
Die Frage „Warum?“ ist von Interesse und ich will es für den
Fall meines Landes versuchen zu beantworten, denn dieses kenne
ich und mache mir deshalb Sorgen darum.
Die frühen
sozialistischen Ziomisten hatten einen optimistische
Losung: „Ein Volk ohne Land für ein Land ohne Volk.“ Die
unbequeme Tatsache, dass in diesem Land schon Araber wohnen und
dass wir lernen müssen, mit ihnen das Land zu teilen, wurde
nicht allgemein aufgenommen. Der durchschnittliche israelische
Bürger soll sich vorzustellen, dass die „Araber draußen sind“ –
und man hat damit Erfolg. Der normale Israeli argumentiert
nicht mit unsereinem, die das grobe Wort „Besatzung“ in einem
höflichen Gespräch verwendet. Wir seien nicht „in“, wir
seien „Leute mit schlechtem Geschmack“, wir hätten keine
„ausgewogenen Ansichten“, also sollten wir ignoriert werden.
Beschreibungen von hässlichen Besatzungstatsachen werden von
ihnen als äußerst unangenehme Meinungen oder Übertreibungen
abgetan. „Unsere netten jüdischen Jungs tun so etwas nicht“.
Inzwischen haben einige Soldaten versucht, dieses Tabu
gebrochen, indem sie berichten, was ihnen tatsächlich zu tun
befohlen wird („Das Schweigen brechen“). Diese Botschaft wird
nicht registriert. Eine kürzlich unternommene Umfrage einer
Zeitung zeigte, dass der größte Teil der israelischen Juden
in ihre Armee Vertrauen hat.
Die
israelischen Führer haben mehr getan, als sich dies nur
auszudenken : sie führten die Politik der Enteignung von
arabischem Land aus, Unterdrückung und Vertreibungen – das
offensichtliche Endziel: soviel wie möglich an Arabern los zu
werden. Unsere Führer haben ein tiefes Verständnis für das, was
der israelische Bürger braucht, um sich selbst wohl zu fühlen.
Also wurde ein psychischer „Trennungszaun“ von Axiomen und
Slogans rund um die israelische Kollektivseele gebaut. Der Zaun
ist so hoch, dass die meisten Leuten nicht mehr in der Lage
sind, darüber hinweg zu sehen.
Der Zaun
wird aus verschiedenen Reihen von Propagandadogmen aufgebaut,
die man als selbstverständlich nimmt, auch wenn sie völlig
absurd sind. Wenn es einem Bürger gelingt, durch die erste Reihe
zu kommen, muss er noch durch ein paar andere. Der Zaun hält sie
gemütlich drinnen und schützt sie vor unangenehmen Gedanken. Das
alles dient den Siedlern und der Besatzung. Seit Jahren
besteht die religiös-nationale Partei darauf, das
Bildungsministerium in allen Regierungen, an denen sie beteiligt
war, inne zu haben – und das aus gutem Grund.
Ein
Hauptaspekt des israelischen ( oder eines anderen)
Propagandasystems ist das Umbenennen. Gib einer hässlichen Sache
– in diesem Fall einem schmutzigen Kolonialkrieg – einen besser
klingenden Namen wie z.B. „Krieg gegen den Terror“ oder
„Existenzkampf“ – und man wird dir gehorchen. Vier frühere Chefs
des Geheimdienstes Shabak stellten in einem weit verbreiteten
Artikel fest, dass die gegenwärtige Siedlungserweiterungspolitik
mit dem Absperren der Araber die reine Existenz des Staates
Israel gefährdet. Diese Statements gelangten nicht bis in die
Köpfe der israelischen Soldaten – oder ihrer Eltern. Die
meisten von ihnen glauben noch immer zu tiefst an ihren Kampf
gegen den Terror. Es ist überwältigend, wie sie immer noch an
die guten Jungs in den Geschichtenbüchern glauben.
In den
Vorstellungen der meisten jüdisch-israelischen Bürger ist ihre
Armee unanfechtbar. Jahrelang wurde den Kindern beigebracht,
dass ein „Idealist“ ein Synonym für „Soldat in einer
Elitekampfeinheit“ ist. Vor kurzem sprach ich mit einem hoch
gebildeten Herren, der jahrelang seinen Reservedienst im Libanon
gemacht hat. Sein Sohn dient nun im Gazastreifen. Der Mann ist
stolz auf seine militärische Vergangenheit und die militärische
Gegenwart seines Sohnes. Ich versuchte gar nicht erst, seinen
Stolz herauszufordern. Ich beschrieb ihm nur die hässliche
Realität in den besetzten Gebieten. Er schaute ganz verduzt
drein, als ob er plötzlich chinesisch reden hörte. Er wurde
nicht unfreundlich, er wechselte nur das Thema . Auf
persönlicher Ebene ist dieser Mann korrekt, gewissenhaft und
dezent. Es war, als ob ich einem überzeugten (?) Christen
zu erklären versuchte, dass es ohne Sex keine Babys gibt – die
Jungfräulichkeit des Staates Israel ist unanfechtbar. Die Worte
„Sicherheit des Staates“ bringt die meisten Israelis in eine Art
Hab-Acht-Stellung. Danach herrscht in ihren Köpfen vollkommene
Leere – man kann ihnen dann alles befehligen, einschließlich
Aktivitäten, die ganz und gar gegen die Sicherheit des selben,
des eigenen Staates gerichtet sind.
Gelegentlich
begegnet man ausgesprochen linken Leuten. Ihre Söhne machen
ihren Militärdienst in den (besetzten) Gebieten. Diese Leute
machen sich nicht nur Sorgen um die Sicherheit ihrer Söhne,
sondern leiden auch moralisch, doch im Stillen. Diesen Eltern
geht es hauptsächlich darum, dass ihre Kinder „in“ sind. Und in
diesem Land ist der traditionelle Weg „in“ zu sein, der
Militärdienst. Die Leute wollen in der Lage sein, stolz zu
verkünden: „Mein Junge dient bei einer Fallschirmjägereinheit“.
Sie sind unfähig dazu, ihren jungen Männern, die stolz die neue
Uniform tragen, gegenüber zutreten und ihnen zu sagen: „Sohn, du
beteiligst dich an einem schmutzigen Kolonialkrieg, der auch den
Staat Israel gefährdet - verlass die Armee!“
Außerdem
trösten sich die meisten Israelis mit dem Glauben, dass alles
vorüber geht. „Der Zaun kann abgerissen werden, wenn sich die
Palästinenser ordentlich benehmen. Die Siedlungen können
aufgegeben werden, sind vorläufig aber eine wertvolle Chipkarte
bei zukünftigen Verhandlungen für ein endgültiges
Friedensabkommen. In der Zwischenzeit müssen wir die Siedler
schützen, da sie ja israelische Bürger sind. Man muss das Beste
hoffen. Es gibt positive Entwicklungen in Richtung
Frieden, die von einem staatsmännischen De-Gaulle-ähnlichen
Sharon unterstützt werden.“ Man kann es kaum glauben, dass
Leute diese Sch... glauben. Aber sie tun es. Das ist es,
was sie in den von der Regierung gesponserten Medien erfahren.
Die
Textlagen des psychischen „Trennungszaunes“ sind zusammengesetzt
aus Wahnvorstellungen mit Opferkomplexen, die fleißig von
unserer Regierung kultiviert werden. Z. B. wird den Israelis
erzählt, dass Europa antisemitisch sei und dass es dort
viele Menschen gibt, die Israel zerstören wollen. Sicherlich
kann man in Europa Judenhasser finden. Aber der europäische
Rassismus ist viel mehr gegen Muslime und Afrikaner gerichtet
als gegen Juden. Und auf jeden Fall ist der Grad von Rassismus
nicht zu vergleichen mit dem in Israel praktizierten gegenüber
Palästinensern. Aber die Regierungspropaganda sickert in
die israelischen Köpfe ein – so kann man liberale, anscheinend
vernünftige Leute hören, wie sie diese wiederholen. Die
Propaganda hat mehrfachen Nutzen. Die meisten Leute versuchen
gar nicht erst, europäische Medien, die kritisch gegenüber
Israel sind, zu lesen. Jeder kritische Artikel wird mit
„antisemitisch“ gleichgesetzt. Und die meisten Leute
denken, sie müssten die Regierung unterstützen, „ weil die Welt
da draußen gegen uns alle ist und wir müssen zusammenhalten,
weil dies das einzige Land ist, das wir haben.“ Allein der
Gedanke, dass wir gegen diese Regierung sein sollten, weil sie
das einzige Land zerstört, geht durch erstaunlich wenig Köpfe
von Israelis. Es ist gefühlsmäßig viel befriedigender, sich
selbst zu bedauern.
Dazu kommt
noch, dass der Komplex von Wahnvorstellungen und Opfermentalität
gegen die Palästinenser kultiviert wird. Den Soldaten wird
beigebracht, dass jeder Palästinenser ein potentieller Terrorist
ist, vor dem die Kinder Tel Avivs bewahrt werden müssen.“
Die Tricks
von Sharon sind einfach: macht das Leben der Palästinenser so
verzweifelt und so hoffnungslos wie möglich, dann wird es
ununterbrochen Terrorakte geben. Sage jedem israelischen
Soldaten, dass jeder Palästinenser ein Terrorverdächtiger sei –
so kommt es zu Entmenschlichung . Stationiere Soldaten in oder
in die Nähe von Siedlungen – so erhält man Solidarität. ( „Ich
traf so nette Leute in den Siedlungen“) Und nach der Entlassung
aus dem Militär kann ein junger Mann ein billiges Heim nur
in den Siedlungen erhalten. Deshalb ist es nicht überraschend,
dass ein Soldat sich verpflichtet fühlt, die Siedler zu schützen
egal wie gewalttätig sie sind - und einen Palästinenser zu
schikanieren, egal wie friedfertig er ist.
Habt Ihr
das Spiel von Tom Stoppard „Rosenkranz und Güldenstern sind tot“
gesehen. In dem Stück geraten zwei gewöhnliche Jungs ( wie bei
Hamlet) in eine fabulöse Schau mit Königen, Königinnen und
Prinzen und bringen es nicht fertig, abzuhauen, obwohl das böse
Ende spürbar nahe ist. Aus dem Spiel auszusteigen und nicht mehr
dazu zu gehören, scheint schlimmer zu sein als zu sterben.
Dasselbe scheint auch für meine israelischen Landsleute zu
gelten. In ihrem Bewusstsein leben sie in einem hübschen,
demokratischen, jüdischen Staat , der um seine Existenz kämpft.
Sie kennen nichts anderes.
Und
vielleicht ist es sogar einfacher. Die meisten Israelis werden
völlig von ihrem täglichen Leben in Anspruch genommen,
kennen persönlich keinen Araber und begegnen der Besatzung nur
über die „gereinigten“ israelischen Nachrichten. Die meisten
Israelis verstehen nicht, was aus ihrem Land geworden ist. Die
meisten sind ganz nette Leute. Das ist Demokratie für euch ....
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