Der Reigen der
Absurdiotie
Uri Avnery, 28.
November 2015
SO ETWAS
wie „Internationalen Terrorismus“ gibt es nicht
Einen Krieg gegen
„Internationalen Terrorismus“ zu erklären, ist Unsinn. Politiker,
die das tun, sind entweder Dummköpfe oder Zyniker und wahrscheinlich
beides.
Terrorismus ist eine
Waffe. Wie eine Kanone. Wir würden denjenigen Auslachen, der gegen
eine „internationale Artillerie“ den Krieg erklärt. Eine Kanone
gehört einer Armee und dient den Zielen dieser Armee. Die Kanone der
einen Seite schießt
auf die Kanone der andern Seite.
Terrorismus ist eine Methode, die oft von einem unterdrückten Volk
benützt wird, wie der französische Widerstand gegenüber den Nazis
im 2. Weltkrieg. Wir würden jeden auslachen, der Krieg gegen
„internationalen Widerstand“ erklärt.
Carl von Clausewitz,
der preußische Militärdenker, sagte den berühmten Satz, dass „Krieg
die Fortsetzung der Politik ist mit andern Mitteln“ Falls er mit
uns heute leben würde, hätte er gesagt: „Terrorismus ist eine
Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln.
Terrorismus bedeutet
buchstäblich, die Opfer erschrecken, damit sie ihren Willen dem
Willen des Terroristen übergeben.
Terrorismus ist eine
Waffe. Gewöhnlich ist es die Waffe der Schwachen, von denen, die
keine Atombomben haben, wie die, die über Hiroshima und Nagasaki
abgeworfen wurden, die die Japaner terrorisierten, sich zu ergeben.
Da die meisten
Gruppen und Länder, die Terrorismus anwenden, verschiedene Ziele
haben, ja, sich oft widersprechen, gibt es nichts „Internationales“
über sie. Jede terroristische Kampagne hat einen eigenen Charakter –
ganz zu schweigen, dass sich keiner als Terrorist ansieht, sondern
eher als ein Kämpfer für Gott, Freiheit oder für sonst etwas.
(Ich kann mich nicht
zurückhalten, damit zu prahlen, dass ich vor langer Zeit die Formel
erfand : „Der Terrorist des einen, ist der Freiheitskämpfer des
anderen“)
VIELE GEWÖHNLICHE
Israelis fühlen nach den Vorfällen in Paris tiefe Befriedigung.
„Jetzt fühlen (diese Scheiß-/ verdammtem-Europäer einmal, was wir
die ganze Zeit fühlen!“
Benjamin Netanjahu,
ein kleiner Denker, aber ein brillanter Verkäufer, ist auf die Idee
gekommen, eine direkte Verbindung zwischen dem jihadistischen
Terrorismus in Europa und dem palästinensischen Terrorismus in
Israel und den besetzten Gebieten herzustellen.
Es ist ein genialer
Schlag: Falls sie ein und dieselben wären, die Messer-stechenden
palästinensischen Teenager und die belgischen Anhänger von ISIS,
dann gäbe es kein israelisch-palästinensisches Problem, keine
Besatzung, keine Siedlungen. Nur moslemischen Fanatismus.
(Ignorieren wir die vielen christlichen Araber, die die säkularen
palästinensischen „terroristischen“ Organisationen füllen.)
Das hat nichts mit
Realität zu tun. Palästinenser, die kämpfen und für Allah sterben
wollen, gehen nach Syrien. Palästinenser – beide, die religiösen und
die säkularen – die in diesen Tagen schießen, mit dem Messer stechen
oder israelische Soldaten und Zivilisten überfahren, wünschen
Freiheit und einen eigenen Staat anstelle von Besatzung
Dies ist eine so
offensichtliche Tatsache, dass selbst eine Person mit dem begrenztem
IQ unserer gegenwärtigen Kabinett-Minister dies begreifen können.
Aber falls sie dies tun, würden sie sehr unfreundlichen Wahlen
gegenüber stehen, was den israelisch-palästinensischen Konflikt
betrifft.
Also lasst uns an der
bequemen Schlussfolgerung hängen: Sie töten uns, weil sie als
Terroristen geboren wurden, weil sie im Paradies den versprochenen
70 Jungfrauen begegnen wollen, weil sie Antisemiten sind. So wie
Netanjahu fröhlich voraussagt: „Wir werden auf immer mit dem Schwert
leben.
SO TRAGISCH
die Folgen jedes terroristischen Ereignisses auch sein mögen, so
ist da etwas Absurdes an der europäischen Reaktion auf die
kürzlichen Ereignisse.
Der Gipfel der
Absurdität wurde in Brüssel erreicht, als ein einziger Terrorist auf
der Flucht eine ganze Hauptstadt tagelang lähmte, ohne dass ein
einziger Schuss abgeschossen wurde. Es war der äußerste Erfolg von
Terrorismus im buchstäblichsten Sinn: Die Angst als Waffe nützen.
Aber die Reaktion in
Paris war nicht viel besser. Die Zahl der Opfer der Gräueltat war
groß, aber vermutlich der Zahl der Opfer von Verkehrsunfällen in
Frankreich alle paar Wochen ähnlich. Es war sicherlich viel
kleiner, als die Zahl der Opfer einer einzigen Stunde Weltkrieg.
Aber rationales Denken zählt hier nicht. Terrorismus arbeitet mit
der Sichtweise der Opfer.
Es scheint
unglaublich, dass zehn mittelmäßige Individuen mit ein paar
primitiven Waffen eine weltweite Panik verursachen konnten. Doch es
ist eine Tatsache. Unterstützt von den Massenmedien, die genau aus
solchen Ereignissen Gewinn ziehen, werden lokale terroristische Akte
heutzutage zu weltweiten Drohungen. Die modernen Medien sind durch
ihre reine Natur die besten Freunde des Terroristen. Ohne die
Medien kann der Terror nicht blühen.
Der nächstbeste
Freund der Terroristen ist der Politiker.Es ist für einen Politiker
fast unmöglich, der Versuchung zu widerstehen, auf der Panikwelle
mit zu reiten. Panik schafft „nationale Einheit“, der Traum jedes
Herrschers. Panik schafft das Verlangen nach einem „stärkeren
Führer“. Dies ist ein Grund-menschlichen Instinkts.
Francois Hollande ist
ein typisches Beispiel. Ein mittelmäßiger, doch schlauer Politiker
ergriff die Gelegenheit, sich als ein Führer hinzustellen. „Das ist
der Krieg!“ erklärte er und schuf eine nationale Stimmung. Natürlich
ist es kein „Krieg“. Natürlich ist es kein 3. Weltkrieg. Nur ein
terroristischer Angriff durch einen verborgenen Feind.
Diese Ereignisse
decken die unglaubliche Dummheit der politischen Führer rund herum
auf. Sie verstehen die Herausforderung nicht. Sie reagieren auf
phantasierte Drohungen und ignorieren die wirklichen. Sie wissen
nicht, was sie tun sollen. Sie halten Reden, berufen Konferenzen ein
und bombardieren jemanden (egal wen und weshalb).
Da sie die Krankheit
nicht verstehen, ist ihre Medizin schlimmer als die Krankheit
selbst. Bombardements verursachen Zerstörung, Zerstörung verursacht
Feinde, die nach Rache dürsten. Es ist eine direkte Kollaboration
mit den Terroristen.
Es war ein trauriges
Schauspiel, all diese Weltführer, die Kommandeure mächtiger
Nationen wie Mäuse in einem Labyrinth herumlaufen zu sehen, sich
begegnen, Reden halten, sinnlose Erklärungen von sich zu geben,
vollkommen unfähig, sich mit der Krise auseinanderzusetzen.
DAS PROBLEM
ist tatsächlich wegen einer ungewöhnlichen Tatsache weit
komplizierter als schlichte Gemüter meinen: Der Feind ist diesmal
keine Nation, kein Staat, nicht einmal ein reales Territorium,
sondern eine undefinierbare Entität: eine Idee, ein Geisteszustand,
eine Bewegung, die zwar irgendeine territoriale Basis hat, ist aber
kein realer Staat.
Dies ist kein
Phänomen, das es so noch nie gegeben hat: vor mehr als hundert
Jahren beging die Anarchisten-Bewegung überall terroristische
Aktionen ohne überhaupt eine territoriale Basis zu haben. Und vor
900 Jahren terrorisierte eine religiöse Sekte ohne Land, die
Assassins ( Eine Korruption eines arabischen Wortes
„Haschischbenutzer“) die muslimische Welt.
Ich weiß nicht, wie
man den Islamischen Staat (oder eher Nicht-Staat) wirksam bekämpft.
Ich fürchte, dass dies niemand weiß. Gewiss nicht die
Einfaltspinsel (Mann oder Frau) der verschiedenen Regierungen.
Ich bin mir nicht
sicher, ob selbst eine territoriale Invasion dieses Phänomen
zerstören würde. Aber selbst solch eine Invasion scheint
unwahrscheinlich. Die Koalition der Unwilligen – von den US
vereinigt, scheint abgeneigt zu sein, eine Bodeninvasion zu machen.
Die einzigen Kräfte, die versuchen könnten – die Iraner und die
syrische Regierungsarmee – werden von den US und ihren lokalen
Verbündeten gehasst.
Wenn man nach einem
Beispiel totaler Orientierungslosigkeit Ausschau hält, die an
Wahnsinn grenzt, so ist es die Unfähigkeit der US und der
europäischen Mächte zwischen der Assad-Iran-Russland-Achse und dem
IS-Saudi-Sunni-Lager zu wählen. Füge das türkisch-kurdische
Problem, die russisch-türkische Abneigung und den
israelisch-palästinensischen Konflikt hinzu – und das Bild ist noch
lange nicht vollständig.
(Für
Geschichts-Liebhaber ist das etwas Faszinierendes über das
Wiederaufleben des Jahrhunderte-alten Kampfes zwischen Russland und
der Türkei)
Es ist gesagt worden,
dass Krieg viel zu wichtig sei, um ihn den Generälen zu überlassen.
Die augenblickliche Situation ist viel zu kompliziert, um sie den
Politikern zu überlassen. Aber wer ist noch da?
DIE ISRAELIS GLAUBEN
( wie gewöhnlich) dass wir die Welt lehren könnten. Wir kennen
Terrorismus. Wir wissen, was zu tun ist.
Aber tun wir es?
Seit Wochen lebt
Israel jetzt in Panik. Aus Mangel eines besseren Namens wird sie die
„Terrorwelle“ genannt. Jeden Tag greifen zwei, drei, vier
Jugendliche -einschließlich 13-Jährige - Israelis mit Messern an
oder überfahren sie mit Wagen und werden gewöhnlich auf der Stelle
erschossen. Unsere renommierte Armee versucht alles, einschließlich
drakonischen Vergeltungsschlägen gegen die Familien und kollektive
Strafen gegen Dörfer - ohne Nutzen.
Dies sind
individuelle Akte, oft ganz spontan und deshalb ist es nahezu
unmöglich, sie zu verhindern. Es ist kein militärisches Problem, das
Problem ist politisch und psychologisch.
Netanjahu versucht
wie Hollande & Co auf dieser Welle zu reiten. Er zitiert den
Holocaust und redet endlos über Antisemitismus.
Alles, um die
eklatante Tatsache zu tilgen: die Besatzung mit ihren täglichen , in
der Tat stündlichen und minütlichen Schikane der palästinensischen
Bevölkerung. Einige Regierungsminister verbergen nicht einmal, dass
es ihr Ziel ist, die Westbank zu annektieren und irgendwann das
palästinensische Volk aus ihrer Heimat ganz zu vertreiben.
Es gibt keine direkte
Verbindung zwischen dem IS-Terrorismus in aller Welt und dem
palästinensischen nationalen Kampf um einen Staat. Aber wenn dies
nicht gelöst wird, werden sich die Probleme vermischen – und eine
viel mächtigere IS wird die moslemische Welt vereinigen, so wie es
Saladin einst tat, um uns – den neuen Kreuzfahrern - gegenüber zu
treten.
Wenn ich gläubig
wäre, würde ich flüstern: Gott bewahre.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser ….
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