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 KurznachrichtenArchiv - ThemenLinksFacebook   -   Samstag, 25. Dezember 2021   -   Sponsern SieAktuelle TermineSuchen

 

Bis zum heutigen Tag prägen drei grundlegende Mythen die israelische Kultur. Das ist erstens die „Negation des Exils“ (sheilat ha-galut), zweitens die „Rückkehr ins Land Israel“ (ha-shiva le-Eretz-Yisrael) und drittens die „Rückkehr in die Geschichte“ (ha-shiva la-historia). Sie sind alle unauflöslich mit der Selbstdarstellung (master-narrative) des Zionismus verbunden. Genau diese Darstellung erklärt, so Gabriel Piterberg, „wie wir dorthin kamen, wo wir jetzt sind und in welche Richtung wir uns in Zukunft entwickeln sollen.“

 

Die Tilgung der Erinnerung

von Gabriel Piterberg

 

Die Negation des Exils stellt eine Verbindung her zwischen einer weit zurückliegenden Vergangenheit, in der es einmal eine jüdische Souveränität über das Land Israel gegeben hat und einer Gegenwart, in der diese Souveränität durch die Wiederansiedlung Palästinas erneut hergestellt wird. Zwischen diesen beiden Perioden liegt eine nicht näher bestimmte Zwischenzeit. Alle Zionisten sind sich einig darin, dass die Zeit des Exils ausschließlich negativ zu betrachten ist. Das geschieht zwar mit unterschiedlichen Abstufungen, aber es entspringt einer nicht weiter hinterfragten Voraussetzung: nämlich dass die Juden schon immer (seit undenklichen Zeiten) eine Territorialnation darstellten. Daraus folgt zwangsläufig, dass eine nicht-territoriale Existenz als „unnormal“ und nicht authentisch erscheinen muss. Für sich selbst genommen erscheint dann auch die geschichtliche Erfahrung des Exils als (eher) unbedeutend. Wenn das Exil auch kulturelle Leistungen hervorgebracht hat, so kann es per definitionem dennoch nicht den Geist der Nation widerspiegeln. Insofern Juden als Individuen oder als Gemeinschaften zum Exil verdammt waren, galt ihre Existenz als Lebensform, die vorübergehend sie – per se im Übergang – ein Dasein, das erlitten, eine Existenz, die bedauernswerterweise zu fristen war. Die Juden des Galut mussten auf die Erlösung, auf die Rückkehr (aliyah) ins Land Israel warten. Nur hier konnte sich das nationale Vermächtnis erfüllen. Folgt man dieser mythischen Erklärung, dann haben die Juden im Exil immer nur ein provisorisches Leben geführt. Schon immer haben sie die Rückkehr ins Land Israel angestrebt und waren also schon immer potenzielle Zionisten (Proto-Zionisten).1

An dieser Stelle verbindet sich nun der zweite Mythos mit dem ersten. In der zionistischen Terminologie ausgedrückt: Wenn die Menschen sich wieder ihre Heimat zu  eigen machen, dann wird sich dadurch die jüdische Existenz (das jüdische Leben) normalisieren. Der für diese Wiederinkraftsetzung des Exodus vorgesehene Ort war das Territorium, auf dem sich die biblische Geschichte abgespielt hat, ganz so wie das im Protestantismus des 18. und 19. Jahrhundert schon ausgemalt wurde. Die zionistische Ideologie definierte dieses Land als leer. Dies bedeutet nun nicht, dass die zionistischen Führer und die Siedler die Präsenz der Araber in Palästina schlicht ignorierten. Israel war in einem „tieferen Sinne“ leer.

 

Die „Wiedergewinnung“ des Landes erforderte eine koloniale Herrschaftsstruktur

Denn auch für dieses Land galt, dass es zum Exil verdammt war, so lange keine jüdische Souveränität über dieses Territorium bestand: Solange hatte es auch keine bedeutende und Authentizität schaffende Geschichte vorzuweisen, sondern „es“ wartete auf Erlösung durch die Rückkehr der Juden. „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“, in diesem wohl bekanntesten zionistischen Slogan werden gleich zwei Dinge geleugnet: Zum einen die historische Erfahrung der Juden im Exil und zum anderen die Geschichte Palästinas ohne jüdische Souveränität. Da das Land nun wirklich nicht im Wortsinne „leer“ war, erforderte seine Wiedergewinnung eine koloniale Herrschaftsstruktur. Diese wurde mit der Bibel legitimiert. Da standen dann die historischen Hüter gegen „Eindringlinge“, die auch nach der Rückkehr der dafür Vorbestimmten immer noch blieben. Die jüdischen Siedler erhielten einen privilegierten Status, der sich aus dem Pentateuch ableitet, während die Araber sozusagen als Teil des Inventars behandelt wurden. Wenn die Bibel davon spricht, dass man eine Frau kennt, dann meint das in der modernen, macho-geprägten hebräischisraelischen Kultur, dass man diese Frau besitzt. Genauso wurden jetzt das „Land kennen“ und das „Land besitzen“ austauschbare Begriffe. Die zionistischen Siedler handelten als ein kollektives Subjekt, während die Palästinenser zu Objekten wurden, über die man verfügt hat.

 

Mit dem dritten grundlegenden Mythos, „Rückkehr in die Geschichte“, zeigt sich so deutlich wie nirgendwo sonst, wie eng die zionistische Ideologie im Europa des 19. Jahrhundert mit der Entwicklung des romantischen Nationalismus und des deutschen Historismus verbunden ist. Seine Grundannahme ist, dass die natürliche und unabänderliche Form menschlichen Zusammenlebens die Nation ist. Von Anbeginn der Geschichte an haben sich die Völker in solchen Einheiten zusammengefunden. Wenn sie auch von Zeit zu Zeit durch innere Spaltungen geschwächt oder durch fremde Mächte unterdrückt wurden, so zielte doch alles darauf ab, dass die Völker im souveränen Nationalstaat ihren politischen Selbstausdruck finden. Der Nationalstaat ist (in dieser Sicht) das geschichtliche Subjekt par excellence, der Staat ist das Ziel, auf das das politische Handeln letztlich hinausläuft. Wenn man dieser Logik folgt, dann standen die Juden, solange sie sich im Exil befanden, außerhalb der Geschichte, in der sich die europäischen Nationen platziert hatten. Demgemäß sind allein Nationen, die auch den Boden ihres Heimatlandes besitzen und die politische Souveränität darüber ausüben, in der Lage, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen und so Eingang in die Geschichte zu finden. Nur durch die Überwindung der Passivität im Exil und die Rückkehr der jüdischen Nation in das Land Israel konnte man wieder Anschluss an die Geschichte der zivilisierten Völker finden.

 

„Cleansing Palestine“

Palästina war nur metaphorisch gesprochen „leer“, tatsächlich war es ja von Arabern bewohnt. Wie aber nun sollte Palästina „geleert“ werden, um so die Gründung Israels zu ermöglichen? (In den letzten zwei Jahrzehnten) sind längst überfällige Kontroversen über die Entstehung des jetzigen Staats Israel geführt worden. Sie wurden durch Arbeiten von Historikern ausgelöst, die diesen grundlegenden Mythen nicht (mehr) verpflichtet sind. Das ist eine begrüßenswerte Entwicklung, weil so viele  leere Mystifikationen einfach weggeblasen worden sind. Aber es besteht die Gefahr, dass die Debatte zu sehr auf die Frage verengt wird, ob es einen ausgereiften israelischen Plan gegeben hat, die palästinensischen Araber im großen Stil 1948 aus ihren Häusern zu vertreiben. Es ist verständlich und zu respektieren, dass hinter dieser drängenden Frage ein moralische Dimension steht. Aber es ist auch wahr, dass hinter dieser Fragestellung die Perspektive der Täter als das gilt, was zählt. Dagegen kommt die Sichtweise der Opfer zu kurz. Die Israelis sollten sich selbst schon mit der Frage beschäftigen, ob es eine explizite zionistische Absicht gegeben hat, unter dem Deckmantel des Kriegs eine ethnische Säuberung durchzuführen. Aber für die Palästinenser, die ihre Häuser, ihr Hab und Gut, ihre Rechte und ihre Identität verloren haben, ist es ziemlich unwichtig, ob die Katastrophe, die ihnen zugestoßen ist, ausgelöst wurde durch die spontanen Entscheidungen von Militärkommandeuren und Bürokraten vor Ort oder ob diese damit implizit den Wünschen der zionistischen Führung entsprachen oder ob – als dritte Variante –  eine nicht näher bestimmbare, verbreitete Atmosphäre und Geisteshaltung vorherrschte, in der großflächige massive Vertreibungen als wünschenswert betrachtet wurden. Man kann sich aber auch eine Kombination zwischen diesen Erklärungsansätzen vorstellen. Was aber für die Araber, die von ihrem Land vertrieben worden waren, zählte, war der Umstand, dass sie so enteignet und zu Flüchtlingen wurden. Wenn man nun nachträglich, das eigene schlechte Gewissen beklagt, besteht die Gefahr, dass dies zu einem Ritual wird, das sich nur die Sieger leisten können, ohne dass dies irgendwelche Folgen für die Opfer hat, die mit den Ergebnissen der Taten leben müssen.

Tatsache ist, dass die Möglichkeit einer massiven Vertreibung schon lange vor dem Kriegsausbruch von 1948 in der Art und Weise der zionistischen Kolonisierung (Besiedlung) Palästinas angelegt war. Die Überlegungen darüber, wie ein solcher „Bevölkerungstransfer“ vonstatten gehen könnte, waren am Ende der 30er Jahre, als der Bericht der Peel-Kommission erschien, schon weit mehr als nur eine abstrakte Idee. Zeev Sternhell hat völlig Recht, wenn er feststellt, dass der Zionismus ein typischer Vertreter des „organischen“ Nationalismus in Mittel- und Osteuropa ist, der sich vom (in Westeuropa vorherrschenden) „zivilen“ Nationalismus unterscheidet. 2

 

Ein wesentliches Merkmal des „organischen“ Nationalismus ist das Streben nach ethnischer Homogenität und damit war von vornherein ausgeschlossen, dass die zionistische Bewegung in Palästina einen binationalen Staat akzeptieren würde. Wenn man nun die demographischen Gegebenheiten in Palästina im Jahre 1947 betrachtet, dann erforderte die Errichtung eines jüdischen Staats ganz unausweichlich die Vertreibung der Palästinenser aus ihren Dörfern und Städten. Allerdings war die Art und Weise dieses „Bevölkerungstransfers“ nicht davon abhängig, ob es einen zuvor minutiös ausgearbeiteten Plan der israelischen Regierung für die Vertreibungen gegeben hat oder nicht. (Hingegen hat es sehr wohl detaillierte Berechnungen und Überlegungen einzelner Beamter und Dienststellen gegeben). Vielmehr war die wichtigste Entscheidung die, die palästinensischen Araber unter keinen Umständen mehr in ihre Häuser zurückkehren zu lassen. Dabei spielte keine Rolle, unter welchen Umständen sie ihre Häuser „verlassen“ hatten. Auch dann nicht, wenn klar war, dass sie diese nur zeitweise verlassen haben, um sich vor akuten Kriegseinwirkungen in Sicherheit zu bringen. Es gab natürlich auch ganz bewusst organisierte großflächige Vertreibungen. Die berüchtigte Operation Dany vom 10. bis 14. Juli 1948 in den Städten Ramleh und Lydda, die 10 Meilen südöstlich von Tel Aviv lagen, ist dafür ein gutes Beispiel. 3 Während dieser Operation wurde in Lydda ein Massaker verübt und es kam zum zwangsweisen Transfer aller Einwohner von Lydda und Ramleh nach Jordanien.

Die wichtigste und sehr bewusst getroffene Entscheidung war aber die, dass der Zusammenbruch des palästinensischen Gemeinwesens als Folge des offenen Krieges zwischen Israel und den arabischen Staaten, unumkehrbar gemacht werden sollte. Es durfte nicht wieder entstehen.

 

 

Der „retroaktive Transfer“4

Im April 1948 fiel Haifa nach einem israelischen Angriff. Im Juni hat dann Außenminister Mosche Scharett, der bis heute von den „Gemäßigten“ in Israel verehrt wird, seinen Kabinettskollegen erklärt:

 

„Meiner Auffassung nach ist das doch wohl die überraschendste Entwicklung überhaupt: Es gibt keine Araber mehr im Land, sie haben es verlassen. Diese Entwicklung ist noch überraschender als die Gründung des hebräischen Staats… Weil die Araber aus freien Stücken geflohen sind, ist ihre Flucht eine der revolutionären Veränderungen, nach denen die Geschichte nicht mehr so weiter geht wie vorher… Wir sollten uns bereit erklären, für das Land zu zahlen. Das bedeutet aber nicht, dass wir jedes Grundstück aufkaufen und jeden Araber entschädigen. Wir sollten Ländereien und Immobilien zur Verfügung stellen, damit die Araber in anderen Ländern angesiedelt werden können. Aber sie sollen nicht zurückkehren.“5 […]

 

Überall auf der Welt haben Bürokraten ihre eigene Denkart und Sprache, und dabei werden von ihnen gelegentlich messerscharf passende Ausdrücke geprägt. Yosef Weitz, der Direktor der Landabteilung der Jewish Agency und einer der führenden Verfechter der Transfer-Idee, hat einen solchen Ausdruck erfunden. Schon am 28.

Mai 1948, nachdem er eine Sitzung des halb-offiziellen dreiköpfigen Transferkomitees geleitet hatte, vermerkte er ein Treffen mit Scharett in seinem Tagebuch. Bei diesem Treffen hatte Weitz Scharett gefragte, ob man gezielte Aktionen unternehmen solle, die sicherstellen, dass die Flucht der Araber aus der Kriegszone irreversibel gemacht wird. Weitz hat dafür den Terminus „retroaktiver Transfer“ (transfer be-di’avad) gebraucht und Scharett hat diese Frage mit „Ja“ beantwortet.6

Der Ausdruck von Weitz spiegelt wider, was zu dieser Zeit intern zwischen israelischen Funktionären und Politikern diskutiert wurde. Angefangen mit der Eroberung von Haifa wurden in allen palästinensischen Gebieten, die von den Israelis erobert wurden, die Araber vertrieben. Mit besonderer Rücksichtslosigkeit geschah dies im Herbst 1948, auch ohne dass es hierfür eines ausgefeilten Plans bedurft hätte. Es gab eine Reihe von Möglichkeiten, das Land „araberleer“ zu machen: durch die Flucht zuerst der Wohlhabenden, durch die zeitweise Flucht von Zivilisten aus dem jeweiligen Kampfgebiet, durch das bewusste Auslösen von Panik, indem das israelische Militär Gewalt, Terror und Propagandamittel einsetzte. Schließlich gab es auch die minutiös geplanten Vertreibungen. Man kann heute anhand der Dokumente gut nachweisen, dass der auf diese Maßnahmen folgende „retroaktive Transfer“ kalt und berechnend in die Praxis umgesetzt wurde.

Das war die grundlegende Entscheidung, die in den 50er Jahren mit weitreichenden Folgen für Palästinenser wie Juden innerhalb und außerhalb Israels, systematisiert, in Gesetzesform gegossen und bürokratisch umgesetzt wurde. Bis zum heutigen Tag bestimmt die Rückkehr der Juden und die Verweigerung der Rückkehr der Araber nach Palästina die Struktur des israelischen Staats. Wenn der Zusammenhang zwischen der Rückkehr der einen und der Verweigerung der Rückkehr der anderen verschwinden würde, dann würde der zionistische Staat seine Identität verlieren.

 

Die offizielle Darstellung

 

Die physische Umsetzung der Politik der Nicht-Rückkehr bedeutete die brutale kriegsmäßige Zerstörung der besetzten Dörfer wie auch von einigen städtischen Wohnvierteln. Es bedeutete die Konfiszierung von Land und Eigentum und schließlich die Ansiedlung von Juden in den Orten, die jetzt ohne Araber waren. Die so geschaffenen Tatsachen wurden in den 50er Jahren durch eine systematisch angelegte Gesetzgebung rechtlich abgesichert. Diese betraf sowohl die Flüchtlinge außerhalb Israels als auch die noch in Israel verbliebenen Araber, die der Staat nun als seine Staatsbürger (zweiter Klasse) definierte. Aber die Auslöschung der arabischen Existenz in Palästina geschah nicht nur physisch.

Die Tilgung dieser Existenz wurde auch diskursiv vollzogen. Eine Gruppe von Funktionären, die als Experten für die „arabische Frage“ galten, war für diesen Aspekt verantwortlich. Sie unterteilte sich wiederum in zwei Gruppen. Da waren zum einen diejenigen, die den außenpolitischen Apparat der Jewish Agency durchlaufen hatten oder die in der Zeit vor der Staatsgründung Mitglieder der Aufklärungsabteilung der Haganah waren. Sie konnten Arabisch sprechen, hatten Erfahrung im Umgang mit Arabern und waren stolz auf ihre Felderfahrung. Diese Gruppe nannte man die „Arabisten“ (Arabistim).

Die andere Gruppe hatte an europäischen, und da vor allem deutschen Universitäten, eine gründlichere und bessere Ausbildung erhalten. Zum Teil waren sie auch schon Absolventen der Hebräischen Universität in Jerusalem. Sie waren vor allem des geschriebenen Arabisch (fusha) mächtig, und sie waren davon überzeugt, als Akademiker ein tieferes und besseres Verständnis des Feindes zu haben als ihre Kollegen Praktiker. Diese zweite Gruppe bezeichnete man als die „Orientalisten“. Nach der Gründung des Staats kamen die meisten von ihnen im Geheimdienstapparat oder in der Nahostabteilung des Außenministeriums unter. Andere gingen in die Forschung oder sie arbeiteten als „Experten für arabische Angelegenheiten“.7

Nach dem Krieg wurde das palästinensische Flüchtlingsproblem zu einem „humanitären Problem“ deklariert. Das war die wichtigste grundlegende Entscheidung dieses Apparats. Als „humanitäres Problem“ sollte das palästinensische Flüchtlingsproblem im Rahmen einer Gesamtlösung des israelisch-arabischen Konflikts angegangen werden, obwohl jeder wusste, dass eine solche Gesamtlösung überhaupt nicht in Sicht war. Bombaji-Sasprotas stellt richtigerweise fest, dass diese Strategie dazu diente, die Palästinenser ihrer Rolle als Opfer der israelischen Expansion zu berauben: Ihre Identität, ihr Gedächtnis sowie ihre Ansprüche und Erwartungen wurden einfach ignoriert. Stattdessen wurde ganz bewusst ein gordischer Knoten geschnürt. Dieser gordische Knoten wurde von den israelischen Akademikern, ganz gleich ob sie nun dem Mainstream zuzurechnen sind oder eine kritischere Haltung einnehmen, als Tatsache akzeptiert.8 […]

 

Das halboffizielle Transfer-Komitee unter der Leitung von Yosef Weitz hat in seinem ersten Bericht vom November 1948 schon die Position formuliert, die später die offizielle Darstellung des „Flüchtlingsproblems“ werden sollte.9 Die wichtigste Aufgabe dieses Komitees war es, dafür zu sorgen, dass es keine Rückkehr mehr geben konnte. Um das zu erreichen, wurden zuerst die palästinensischen Dörfer und Wohnviertel systematisch zerstört. Anschließend wurde das Land und das Eigentum der Palästinenser systematisch beschlagnahmt. Der umfangreiche Bericht vom November 1948 enthält viele detaillierte Informationen über die Palästinenser und die Aktivitäten des Komitees. Der Sinn und Zweck der Übung bestand im Großen und Ganzen darin, mit gebotener Autorität und scheinbarer Objektivität den Schluss nahezulegen, dass die einzige Lösung darin bestünde, die Flüchtlinge in den anderen arabischen Staaten anzusiedeln. Im Rückblick erscheint dieser Bericht so etwas wie der Urtext zum gesamten israelischen Diskurs über das Schicksal „derer, die gegangen sind“. Akademiker, Bürokraten und Politiker – alle hatten dessen Grundannahmen verinnerlicht, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Arbeiten von Benny Morris veröffentlicht wurden, also bis weit in die 80er und 90er Jahre hinein. Dieser Bericht des Transferkomitees lieferte die Standarddarstellung der Geschichte - so wie sie in der Propaganda und für außenpolitische Zwecke benutzt wurde.

Seine Darstellung war fehlerhaft und tendenziös, und es gibt genug Hinweise darauf, dass sie auch bewußt so „gestrickt“ wurde. 10 Die zentrale Aussage war, dass die Palästinenser selbst, ihre Führer wie auch ihre Verbündeten in den arabischen Staaten, die alleinige Verantwortung für die Entstehung des „Flüchtlingsproblems“ trügen.[…]

 

Das Verschwinden des Dorfes Shayk Mu’nis

Ein logischer und damit einhergehender Schritt ist das systematische Bemühen, alle Spuren einer palästinensischen Vergangenheit auf dem eroberten Boden zu tilgen. In den Memoiren von Zwi Yavetz findet sich ein gutes Beispiel dafür, wie diese Politik in die Praxis umgesetzt wurde. Zwi Yavetz, emeritierter Professor für römische Geschichte, gehört zu den Gründern der Universität Tel Aviv. Drei Jahrzehnte lang war er ein mächtiger Königsmacher in der geisteswissenschaftlichen Fakultät. In seinen Memoiren erinnert er sich an die ersten Verhandlungen mit Akademikern, Bürokraten und Politikern, die zur Gründung der Universität führten. Er beschreibt, wie die Entscheidung getroffen wurde, den ersten noch provisorischen Campus aus dem Zentrum von Tel Aviv nach Shayk Mu’nis zu verlagern. 11

Den Ort Shayk Mu’nis erwähnt auch Golda Meir… Sie sprach vor dem Zentralkomitee der Mapai (Arbeiterpartei). Was denn nun mit den Orten geschehen solle, die von den Arabern verlassen worden sind, war eine der Fragen, die sie behandeln wollte. Dabei sollte man ihrer Meinung nach zwischen „feindlichen“ und „freundlichen“ Dörfern unterscheiden. „Was machen wir mit Dörfern“, so fragte sie, „die verlassen von uns freundlich gesonnenen Arabern wurden, ohne dass es einen Kampf gegeben hat. Sollen wir diese Dörfer erhalten, so dass ihre Einwohner zurückkehren können. Oder aber wollen wir auch in diesen Fällen alle Spuren verwischen, die darauf hinweisen, dass hier einmal ein Dorf gestanden hat.“12 Golda Meirs Antwort war unmissverständlich: Es sei undenkbar, dass wir Dörfer wie Shayk Mu’nis, dessen Bewohner geflohen sind, weil sie nicht gegen uns kämpfen wollten, in der gleichen Weise behandeln wie feindliche Dörfer, also wie solche, die unter die Prinzipien des ‚retroaktiven Transfers’ fielen.

Aber die Bewohner von Shayk Mu’nis hatten nicht viel davon, dass ihr Dorf als „freundlich“ eingestuft wurde. Dabei hatten noch bis Ende März 1948 die Führer dieses nördlich von Tel Aviv gelegenen Dorfes arabische Kämpfer davon abgehalten, das Dorf zu betreten und sie haben sogar eng mit der Haganah zusammen gearbeitet. Doch dann wurden fünf Dorfnotable von der Irgun entführt. Daraufhin floh die Bevölkerung in großer Zahl und Shayk Mu’nis verschwand förmlich von der Bildfläche – eine Tatsache, die drei Monate später auch von der Aufklärung der israelischen Streitkräfte bestätigt wurde. Golda Meir stellte ihre scheinbar drängenden Fragen nach dem Schicksal von Shayk Mu’nis Anfang Mai, obwohl sie damals schon wusste, dass dieses Dorf seit Ende März 1948 nicht mehr existierte. Das ist ein typisches Beispiel für die Krokodilstränen, die die Arbeiterzionisten vergießen, wenn sie sich über von ihnen geschaffene fait accompli das Herz zerreißen. Wo einst Shayk Mu’nis stand, steht heute im Norden Tel Avivs das ziemlich wohlhabende Viertel Ramat Aviv. Dort, wo nicht einmal zwanzig Jahre vorher das Dorf Shayk Mu’nis stand, wurde in den 60er Jahren die Universität Tel Aviv gebaut. Yavetz, „linker“ Kriegsveteran des 48er Krieges, verliert darüber in seinen Memoiren kein Wort. Shayk Mu’nis existierte nicht mehr und 30 Jahre lange erinnerte daran auch nichts. Doch dann passierte etwas Unvorhergesehenes. In den 90er Jahren wurde die Universität größer und sie hatte auch mehr Geld. Also baute sie auf ihrem Campus einen luxuriösen VIP-Club, dem sie den Namen das „Grüne Haus“ gab. Seine Architektur entspricht dem in Israel sogenannten orientalischen Stil, und es sieht aus wie eine arabische Villa. Nun steht dieses „Grüne Haus“ auf dem Hügel, auf dem einst das Haus des Mukhtars von Shayk Mu’nis stand. Jetzt kann man Informationen über die Geschichte dieses Ortes und wem er einst gehörte in der Speisekarte des Grünen Hauses finden.

 

„Operation Flüchtlinge“

Von Beginn an war es den israelischen Beamten und Funktionären sehr bewusst,  dass der Faktor „Erinnerung“ von außerordentlicher Bedeutung war und dass sie diese Erinnerung unbedingt tilgen mussten. Denn: Um den jüdischen Staat gründen zu können, war es wichtig, auch vor den Juden selbst geheim zu halten, was passiert war. Noch wichtiger aber war es, die Erinnerung der Palästinenser an ihre eigene (jüngste) Vergangenheit auszulöschen. Schamai Kahane hat eines der Schlüsseldokumente in diesem Zusammenhang verfasst. Kahane war ein hoher Beamter des Außenministeriums und von 1953-1954 diente er Mosche Scharett als persönlicher und diplomatischer Sekretär. Er war auch beteiligt am Aufbau eines großes Aktenbestands, bekannt unter dem Namen „Operation Flüchtlinge“. Am 7. März 1951 13 legte er dem amtierenden Direktor der Nahostabteilung des Außenministeriums (Divon) ein Memorandum vor, in dem es um diesen Punkt, die Erinnerung der Flüchtlinge, geht:

 

„Propaganda unter den Flüchtlingen, um sie von der Illusion abzubringen, nach Israel zurückkehren zu können.

Es erscheint als sehr wirkungsvoll, diese Propaganda mit Hilfe von Fotos zu betreiben, damit ihnen (den Flüchtlingen) sehr deutlich wird, dass es nichts mehr gibt, wohin sie zurückkehren können. Die Flüchtlinge glauben, dass ihre Häuser, ihre Möbel und sonstiges Hab und Gut immer noch intakt sind und dass sie nur zurückkehren müssen, um es wieder in Besitz nehmen zu können. Stattdessen muss man ihnen vor Augen führen, dass ihre Häuser zerstört sind und sie ihren Besitz verloren haben. Die Juden, die jetzt dort leben, werden auch nicht mehr wegziehen, sie haben sich jetzt dort fest eingerichtet. Alles dies kann man auf indirekte Weise vermitteln, so dass dadurch nicht unnötigerweise Rachegefühle geweckt werden. So kann man die Wirklichkeit darstellen, wie bitter und grausam sie auch immer sein mag.

Wege, um dieses Material zu verbreiten: Man kann eine Broschüre oder eine Serie von Artikeln mit Fotos in Israel oder im Ausland in begrenzter Auflage veröffentlichen, so dass sie außerhalb der arabischen Welt nicht zu hohe Wellen schlagen, sie aber dennoch ihren Weg in die Hände arabischer Journalisten finden. Diese könnten dann entsprechend den Vorabsprachen die Flüchtlinge von dem besagten Material in Kenntnis setzen. Ein anderer Weg wäre die Fotos mit den dazugehörenden Überschriften (und die Überschriften sind das Wichtigste!) in einer Broschüre zu drucken, die so aussieht, als wäre sie in einem arabischen Staat gedruckt worden. Mit Hilfe der Fotos kann man dann den Unterschied zeigen, wie die arabischen Dörfer früher ausgehen haben und wie es jetzt nach dem Krieg und der Ansiedlung der Juden dort aussieht. Diese Fotos sollten belegen, dass die Juden dort nur Ruinen und Trümmer vorgefunden haben und dass sie viel Arbeit in den Wiederaufbau der verlassenen Orte gesteckt haben, dass sie hier für sich selbst ihre Zukunft sehen und sie nicht bereit sein werden, sie wieder zu verlassen.

Dieser Vorschlag ist sicher mit einem gewissen Risiko verbunden, aber ich glaube, dass seine Vorteile die möglichen Nachteile überwiegen. Wir sollten ihn sorgfältig prüfen und dann auch wirksam umsetzen“. 14

 

Kahanes Memorandum zeigt, wie kaltblütig sich das israelische Establishment daran machte, das Bewusstsein und die Erinnerung der Opfer zu verändern. Das Memorandum war nur der Vorlauf zu einem umfassenden Bericht, den Kahane etwas später im Jahr 1948 verfasste und in dem er alle möglichen Aspekte des „Flüchtlingsproblems“ abhandelte. Dieser Bericht wurde mit Blick auf die Aktivitäten des UN Appeasement Committees und einer von diesem Committee unterstützten Konferenz in Paris abgefasst.15 Der Bericht ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Er belegt, wie schnell das arabische Erbe (und die arabische Präsenz) in Palästina von Seiten der Regierung als eine nur vorübergehende Episode betrachtet wurde. Er zeigt zudem, wie sehr die Rückkehr der Flüchtlinge als eine objektive Unmöglichkeit dargestellt wurde, um ja nicht zu zeigen, dass es der Staat war, der alles daransetzte, um diese Rückkehr zu verhindern.

Damit wurde die gängige Auffassung bestätigt, dass die Araber selbst schuld sind an ihrem Unglück. Kahane macht auch deutlich, wie sehr seiner Auffassung nach Palästina bereits ein Land ohne Araber geworden ist. „Von einem nationalen Standpunkt aus gesehen wird das Wachstum der arabischen Minderheit Israels Entwicklung als homogenen Staat behindern.“ Eine Repatriierung, so fügte er mit einem altruistischen Unterton hinzu, würde auch für die Flüchtlinge selbst nicht von Vorteil sein:

 

„Wenn die Flüchtlinge nach Israel zurückkehrten, dann würden sie ein Land vorfinden, dessen wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Strukturen sich grundlegend von dem Land unterscheiden, das sie verlassen haben. Die Städte und die meisten der verlassenen Dörfer sind bereits von Juden bewohnt und sie prägen diese Orte bereits… Wenn die Flüchtlinge nun in die Realität zurückkehren würden, die sich seither bereits in Israel entwickelt hat, würden sie sich hier nur noch sehr schwer zurechtfinden. Freiberufler, Kaufleute und Beamte müssten in den Städten, wo schon alle Schlüsselpositionen von Juden besetzt sind, einen wirtschaftlichen Überlebenskampf führen. Für die meisten Bauern ist eine Rückkehr auf ihre Ländereien nicht mehr möglich.“

 

An dieser Stelle nimmt Kahane die Argumentation eines früheren Berichts des Außenministeriums vom 26. März 1949 wieder auf. Auch dieser Bericht war mit Blick auf das UN-Appeasement Committee erstellt worden. Die Autoren des Berichts waren wohl Michael Comay, der Direktor der Commonwealth-Abteilung des Außenministeriums und Zalman Liftshitz, ein früheres Mitglied des Transfer-Komitees und Berater Ben-Gurions für Fragen des Landbesitzes. Der in Englisch verfasste Bericht mit dem Titel „Das arabische Flüchtlingsproblem“ unterstreicht ebenfalls, dass eine Repatriierung der Flüchtlinge vollkommen unmöglich ist. Er tut dies in einer überheblichen Art und zieht dabei alle Register nach dem bekannten Strickmuster: „Es hat sich alles geändert; es ist nichts mehr so, wie es einmal war“ 16. In dem Bericht wird dem Ganzen jedoch noch eine tragische Note hinzugefügt. Das Schicksal der Flüchtlinge wird als eine Naturkatastrophe gewertet. Deren Folgen seien zwar bedauernswert, aber eben auch unabwendbar und unabänderlich. Dagegen hätten diejenigen, die diese Vertreibung verursacht haben, sprich also der Staat, gar nichts mit der Sache zu tun. An diesem Bericht, der eine Verlautbarung des Staats darstellt und dessen Autoren Staatsdiener waren, fallen der unpersönliche Stil und der häufige Gebrauch von Passivsätzen auf:

 

„Während des Krieges und mit der Flucht brach die wirtschaftliche Lebensgrundlage der Flüchtlinge weg. Das bewegliche Hab und Gut, das sie nicht mitnehmen konnten, ist inzwischen verschwunden. Das Vieh wurde geschlachtet oder verkauft.

Im Verlauf der Kämpfe wurden Tausende von Wohnunterkünften in Städten und Dörfern zerstört. Andere wurden bewusst zerstört, damit sie nicht von feindlichen Kombattanten genutzt werden konnten. In den meisten Unterkünften, in denen man noch wohnen kann, leben jetzt (jüdische) Einwanderer (…). Aber selbst wenn eine Repatriierung wirtschaftlich möglich wäre, ist sie auch politisch erwünscht? Würde es einen Sinn machen, wieder eine duale Gesellschaft aufzubauen, mit der sich Palästina schon so lange herumgeplagt hat und die am Ende zum offenen Krieg geführt hat. Selbst unter den glücklichsten Umständen würde eine komplexe und instabile Situation entstehen, wenn in einem einzigen Staat zwei oder noch mehr Völker von unterschiedlicher Rasse, Religion, Sprache und Kultur zusammenleben müssten.“

 

Die anwesende Abwesenden (Hanifkadim Hanokhahim)

Der von Yosef Weitz geprägte bürokratische Begriff vom „retroaktiven Transfer“ beschreibt nicht nur messerscharf den Gegenstand; er erzählt auch die Geschichte, wie die Israelis Palästina in ein Land verwandelt haben, in das die während des Kriegs ins Ausland Geflüchteten nicht mehr zurückkehren durften.

Ein weiterer Begriff, der für die Binnenflüchtlinge, die innerhalb der israelischen Staatsgrenzen geblieben sind, geprägt wurde, hat ebenso bedeutende bürokratische, juristische und moralische Auswirkungen. Die palästinensischen Binnenflüchtlinge wurden als anwesende Abwesende (present absentees) bezeichnet. Bombaji-Sasportas zeigt an diesem Beispiel (S. 44-99), wie sehr das israelische Establishment den Kontext von „außen“ und „innen“ benutzt hat, um die Flüchtlinge zu einem puren Objekt zu machen, sie zu kontrollieren und zu enteignen. Wir beleuchten den Begriff hier, um zu zeigen, welche Realität hinter dieser Begrifflichkeit steckt. Der Terminus der „anwesende Abwesenden“ bezeichnet die Geschichte der Palästinenser, die zwischen 1948 und 1952 noch im Innern, in Israel, blieben. Es sind dies ca. 160 000 Palästinenser gewesen und in diesem Terminus ist wiederum eine Geschichte von Vertreibung und Enteignung enthalten und er erzählt noch mehr: nämlich etwas über jene stillschweigende  Apartheid, die Israel bis heute prägt. Es handelt sich um das Zusammenspiel zwischen formaler Einbeziehung der Palästinenser als Staatsbürger und ihrer strukturellen Ausgrenzung, indem man ihnen gleiche Rechte verweigert. Das schafft eine besondere Dialektik der Unterdrückung. Einerseits ist dieser Bevölkerungsteil formal zwar anwesend, aber in vielerlei Hinsicht sind die Palästinenser auch nicht da. Das lässt die rechtlich-bürokratische Definition dieser Palästinenser so kalt und korrekt erscheinen.

Ursprünglich war die Kategorie der „Abwesenden“ ein juristischer Begriff, der diejenigen Flüchtlinge bezeichnete, die zwar von ihren Wohnungen „abwesend“ waren, aber noch innerhalb der Staatsgrenzen, so wie sie die Waffenstillstandsabkommen von 1949 festlegten, „anwesend“ waren. Der großen Mehrheit der so klassifizierten Palästinenser wurde die Rückkehr in ihre Häuser verweigert. Sie konnten ihr Eigentum nicht wieder einklagen, es wurde ihnen aber auch keine Entschädigung gezahlt. Denn der Staat hat 1950 das Gesetz über das Eigentum der Abwesenden verabschiedet, mit dem die Plünderung ihrer Besitztümer legalisiert wurde. Der groß angelegte Diebstahl arabischen Eigentums kam im Gewand einer riesigen Grundstückstransaktion daher, die der Staat sozusagen mit sich selbst durchführte. Dafür wurde ein besonderes Amt, der Treuhänder (Hüter) geschaffen, wobei man nur schlecht verbergen konnte, dass es sich hierbei um einen Regierungsfunktionär handelt. Der Treuhänder war berechtigt, das Land der Abwesenden (so wie es im Paragraph 1b des Gesetzes definiert ist) an die Entwicklungsagentur zu verkaufen. Auch diese Behörde wurde für eben diesen Zweck von der Regierung eigens gegründet. Sie hat dann das Land an den Jüdischen Nationalfond weiterverkauft. Am Ende dieser Kette wurden diese Ländereien dann nur an Juden vergeben. Der Jüdische Nationalfond arbeitet laut seinem Statut nur im Interesse der Juden. So wurden diese Ländereien faktisch privates Eigentum, während sie de jure in Staatsbesitz blieben.

 

Die Zerstörung der Kultur

Ihr rechtlicher Status hatte für die „Abwesenden“ schon schlimme Folgen. Die ganze Dialektik des Status der „anwesend Abwesenden“ erschließt sich aber erst, wenn man liest, was Alexander Dotan, auch er ein hoher Beamter des Außenministeriums, zu diesem Thema zu Papier gebracht hat. Im Frühsommer 1952 arbeitete Dotan in der Abteilung für Internationale Organisationen. Zu diesem Zeitpunkt beendete die UNRWA gerade ihre Aktivitäten in Israel und übergab der israelischen Regierung die Verantwortung für die „internen“ Flüchtlinge. Im Juli wurde Dotan zum inter-ministeriellen Koordinator und zum Vorsitzenden des Beratenden Komitees für Flüchtlingsangelegenheiten ernannt. Nachdem er sich eine Zeit lang in dieses Thema eingearbeitet hatte, verfasste er eine Reihe von Memoranden, in denen er neben Hintergrundinformationen auch Lösungsvorschläge für das „Flüchtlingsproblem“ offerierte. Das erste dieser Memoranden datiert vom 9. November 1952 und befasst sich speziell mit den Flüchtlingen innerhalb Israels, denen nicht erlaubt wurde, in ihre Heimatorte zurückzukehren und die jetzt in anderen palästinensischen Dörfern und Städten untergekommen waren. Dotan war wohl der erste, der diese Menschen als anwesend Abwesende bezeichnete und der auch ihren Status näher definierte.17 Dieses Memorandum hat schon literarische Qualitäten. Da werden ein tragischer Komplott, eine angeblich vorhandene Empathie und eine anthropologische Distanz dazu benutzt, ein ‚realistisches’ Bild davon zu zeichnen, wie sich die „anwesend Abwesenden“ wohl an die Vergangenheit erinnern werden:

 

„Das grundlegende Problem eines Flüchtlings, der vollständig von der Regierung abhängig ist, ist sein Grund und Boden. Viele der Flüchtlinge leben heute in Dörfern in Galiläa, ganz nah an ihren verlassenen eigenen Dörfern und Ländereien. Sie haben hier sozusagen ihren Aussichtsturm. Die Entfernung beträgt oft nur ein paar Kilometer und in den meisten Fällen wären die Flüchtlinge in der Lage, auch ohne dass sie in die verlassenen und zerstörten Dörfer zurückkehren müssten – falls man es ihnen erlauben würde – ihre Ländereien von ihrem jetzigen Aufenthaltsort aus zu bewirtschaften. Von seinem momentanen Aufenthaltsort aus kann der Flüchtling beobachten, was mit seinem Land passiert. Er hofft zwar auf die Rückkehr, er sieht aber auch die neuen (jüdischen) Einwanderer, wie sie versuchen, sich auf seinem Land einzurichten und Wurzeln zu schlagen. Er bemerkt auch, wie andere Ländereien vom Treuhänder zur Bearbeitung an andere weitergegeben werden. Er kann auch beobachten, wenn der Obstgarten verwildert, weil sich niemand mehr um ihn kümmert. Der Flüchtling sehnt sich nach der Rückkehr auf sein Land, auch dann, wenn es nur ein Teil seines Besitztums wäre und das meiste seines Landes schon von Juden besiedelt und bewirtschaftet wird. Er wünscht sich, dass er das verbliebene Land wenigstens vom Treuhänder pachten kann, aber auch das wird ihm verwehrt.“

 

Dotan macht den Lesern seines Memorandums auch klar, dass eine Verlängerung dieses Zustands aus politischen und kulturellen Gründen unmöglich ist. Aber seine Schlussfolgerung ist nicht etwa die, dass die Flüchtlinge ihr Eigentum zurückerhalten und zumindest die „internen“ Flüchtlinge die vollwertige israelische Staatsbürgerschaft erhalten. Es gehört bis heute zu den fundamentalen zionistischen Tabus, dass man die Wörter „Rückkehr“, „Araber“ und „Palästinenser“ nicht in einem Zusammenhang aussprechen darf. Dotan hatte denn auch etwas ganz anderes im Sinn: Er wollte die vollständige Assimilation (hitbolelut) dieser Palästinenser in den jüdischen Staat und in die israelische Gesellschaft betreiben, indem ihre Erinnerung, ihre Identität und ihre Kultur zerstört wird. Dotan hat den Terminus hitbolelut ganz bewusst gewählt, der für die zionistische Bewegung eine besondere Bedeutung hat. Denn dieser bezeichnet die Katastrophe, die eine Rückkehr ins Land Israel unmöglich machen würde: nämlich die Assimilation des jüdischen Volkes in der Diaspora und dadurch sein Verschwinden. Aber eben dieses Schicksal wollte Dotan den Arabern in Israel angedeihen lassen. In einem zweiten Memorandum warnte Dotan vor der Gefahr, dass durch die Verlängerung des jetzigen Zustands, die Palästinenser in Israel sich als „verfolgte nationale Minderheit verstärkt mit der arabischen Nation identifizieren könnten“ 18 Um dieses Risiko zu vermeiden, schlug er eine Doppelstrategie vor. Auf der einen Seite sollte man die Araber in den Staat integrieren und ihnen „die Tore zur Assimilation öffnen“, auf der anderen Seite sollte man aber „all diejenigen, die unwillig oder unfähig sind, sich dem (jüdischen) Staat anzupassen, mit aller Härte bekämpfen.“ Dotan war sich bewusst, dass eine solche Politik auf Widerspruch stoßen würde, und er hat sich auch gleich der Gegenargumente angenommen:

„Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Araber in dieser Weise assimilieren wollen? Das ist eine berechtigte Frage. Beantwortet werden wird sie erst durch Erfahrungen, die man machen wird. Aber wenn man die Geschichte zu Rate zieht, dann stellt man fest, dass Assimilationsprozesse sich schon sehr häufig im Nahen Osten vollzogen haben.“

Dass diesem ganzen Konzept eine koloniale Logik zugrunde liegt, wird sehr deutlich, wenn Dotan näher erläutert, wie er denn die Zerstörung der palästinensischen Identität erreichen will:

 

„Um diese Politik umsetzen zu können, bedarf es eines entschlossenen und planvollen Vorgehens des Staats und der jüdischen Öffentlichkeit gegenüber der arabischen Minderheit. Die Bildung einer säkularen jüdisch-kulturellen Missionsbewegung wäre in diesem Zusammenhang ein wichtiges Instrument. Die Missionsbewegung würde als Botschafter des jüdischen Volkes und des israelischen Fortschritts in den arabischen Dörfern arbeiten. Unter keinen Umständen darf dies aber parteipolitisch instrumentalisiert werden. Die Missionsbewegung müsste an speziellen Schulungsstätten jüdische Berater ausbilden, die anschließend in den arabischen Dörfern arbeiten. Das müsste dann so ähnlich ablaufen, wie es bereits unsere Berater in den Aufnahmecamps für die neuen Einwanderer (ma’abarot) machen oder so wie es in Mexiko die Missionen in den indianischen Dörfern vorgemacht haben. Diese Berater würden zusammen mit den Flüchtlingen in die (verlassenen) Dörfer kommen und sie würden diese vom ersten Tag ihrer Wiederansiedlung begleiten. Eine solche Beratergruppe bestehend aus jeweils zwei bis drei Männern und Frauen für 20 oder auch 30 Dörfer sollte ausreichen, um in den agrarischen Strukturen Veränderungen zu bewirken. Sie müsste in dem jeweiligen Dorf wohnen, sie müsste Hebräischunterricht erteilen, landwirtschaftliche Beratung und medizinische Versorgung anbieten. Zudem müsste sie insgesamt eine gesellschaftliche Orientierung geben. Sie wären die natürlichen Vermittler zwischen dem Dorf und Behörden sowie mit der hebräischen Gesellschaft und schließlich müssten sie aus Sicherheitsgründen alles, was in und um das Dorf passiert, im Auge behalten. Solch eine Mission könnte Einfluss auf die Dorfangelegenheiten gewinnen und die Dörfer innerhalb weniger Jahre grundlegend verändern.“

 

Dieser Vorschlag Dotans stieß auf heftige Ablehnung bei Josh Palmon, Ben-Gurions einflussreichem Berater für arabische Angelegenheiten. Palmon plädierte für die Fortsetzung der äußerst repressiven Militärverwaltung, der die Araber in Israel unterworfen waren. Er tat dies in der Hoffnung, dass sich durch sie doch noch ein „retroaktiver Transfer“ ergeben würde – sprich, dass auch die „internen“ Flüchtlinge eines Tages nach „außen“ vertrieben werden. Aber Dotan ließ sich von diesem Widerstand nicht beirren. In seinem nächsten Memorandum vom 23. November 1952 warnte er davor, dass auswärtige Mächte versucht sein könnten, eine „kulturelle Autonomie“ für die palästinensische Minderheit durchzusetzen, falls seine Assimilierungsstrategie nicht umgesetzt wird. Der letzte Baustein in Dotans Assimilationsgebäude zeigt noch einmal deutlich, wie sehr es darum ging, die Erinnerung an ein arabisches Palästina auszulöschen. So schrieb er an den Außenminister:

 

„Ein ganz wichtiger Schritt wäre es, wenn wir sehr schnell die alten (antiken) geographischen Bezeichnungen wieder verwenden und arabische Ortsnamen hebräisieren (shi’abur). In diesem Zusammenhang wäre das Wichtigste, die neuen Namen im tagtäglichen Gebrauch durchzusetzen. Aber damit stoßen wir auch schon auf Probleme bei den Juden. In Jaffa ist der Name ‚Jibaliyya‘ immer noch gebräuchlich, obwohl er langsam durch ‚Giv’at Aliya‘ ersetzt wird. Im Unterschied dazu, hat man noch keinen hebräischen Namen für ‚Ajami‘ gefunden und einige neue Einwanderer nennen das arabische Wohnviertel unkorrekter Weise das ‚Ghetto‘ oder das ‚arabische Ghetto‘. Wenn man es konsequent und mit entsprechender Indoktrination angeht, dann ist es möglich, die arabischen Bewohner von ‚Rami‘ im oberen Galiläa dazu zu bringen, dass sie ihr Dorf in Schrift und Sprache ‚Ha-Rama‘ (Ramat Naftali) nennen. Man kann auch die Einwohner von ‚Majd al-Krum‘ (ebenfalls im Oberen Galiläa gelegen) daran gewöhnen, dass sie ihr Dorf ‚Beit ha-Kerem‘ nennen. Von den Einwohnern des Ortes, den die Araber ‚Shafa’amer‘ (in der Nähe von Haifa) nennen, habe ich schon den hebräisierten Namen Shefar’am gehört.“19

 

Dotan hat sein zweites Memorandum als die „Endgültige Lösung des Flüchtlingsproblems in Israel“ beschrieben. Es fällt auf, wie leichtfertig dieser Begriff benutzt wird. Hier liegen die historischen Wurzeln für jenes obsessive Beharren darauf, dass es für die Palästinenser kein Recht auf Rückkehr geben kann. Diese Position findet heute in der israelischen Politik den breitesten Rückhalt. Der Konsens ist hier noch größer als bei der Frage, ob Jerusalem wieder geteilt werden soll. Dies erklärt auch, weshalb der Rückzug aus den 1967 besetzten Gebieten und die Aufgabe der Siedlungen, tatsächlich von vielen grotesker Weise als schmerzlicher Kompromiss betrachtet wird.

 

 

Gabriel Piterberg, University of California, Los Angeles (UCLA), Department of History. Wir danken dem Autor für die Überlassung seines Beitrags. "Erasures," erschien zum ersten Mal in New Left Review, 10 (July-August 2001). Aus dem Englischen von Johannes Berger.

 

1 Dieser Artikel basiert auf einem längeren Aufsatz mit dem Titel ‘Can The Subaltern

Remember? A Pessimistic View of the Victims of Zionism’, der in Ussama Makdisi / Paul Silverstein (Hg.) Memory and Violence in the Middle East and North Africa, Bloomington, 2006 erschienen ist..Meine Interpretation dieser grundlegenden Mythen wird geprägt durch die Lektüre von Boas Evron, National Reckoning [Hebräisch], 1986; Yitzhak Laor, Narratives with no Natives: Essays on Israeli Literature [Hebräisch], 1995; David Myers, Re-Inventing the Jewish Past, Oxford 1995; Amnon Raz-Krakotzkin, ‘Exile within Sovereignty’ [Hebräisch], 2Teile, Theory and Criticism, 4, 1993, S. 23–56 und 5, 1994, S. 113–32.

2 Zeev Sternhell, The Founding Myths of Israel, Princeton 1998, pp. 3–47.

3 Benny Morris, Birth of the Palestinian Refugee Problem, 1947-49, Cambrigde 1987. pp. 203–12.

4 Haya Bombaji-Sasportas, ‘Whose Voice is Heard/Whose Voice is Silenced: the Construction of the Palestinian Refugee Problem in the Israeli Establishment, 1948–52’, unveröffentlichte MA Thesis, 2000. Ich bin der Autorin sehr dankbar dafür, dass sie mir die Dokumente zugänglich gemacht hat.

5 Yigal Elam, The Executors (Hebräisch), 1990, p. 31.

6 Vgl. Morris, 1948 and After, pp. 89–144.

7 Vgl. Bombaji-Sasportas, ‘Whose Voice..., S. 17–22; Joel Beinin, ‘Know

Thy Enemy, Know Thy Ally’, in Ilan Pappé, ed., Arabs and Jews during the Mandate

[Hebrew], 1995, S. 179–201; Gil Eyal, ‘Between East and West: The Discourse on

“the Arab Village” in Israel’ [ Hebräisch], Theory and Criticism, 3, 1993, pp. 39–55; Dan Rabinovich, Anthropology and the Palestinians [Hebräisch ], 1998.

8 Bombaji-Sasportas, ‘Whose Voice..., pp. 31–3.

9 SA/FO/CMDG, 3/2445. Dort vor allem Dokumente zum Zeitraum zwischen August und November 1948. 

10 Der Vergleich zwischen der offiziellen Darstellung und den vertraulichen Unterlagen aus dieser Zeit legt eine bewusste Irreführung sehr nahe. Yaacov Shimoi, ein hoher Funktionär in dieser Zeit, gestand 1989 ein, dass eine „bewusst falsche Version“ fabriziert wurde. 

11 Zvi Yavetz, ‘On the First Days of Tel Aviv University: Memories’, Alpayim, 11,

1995, pp. 101–29.

12 Vgl. Morris, Birth of ...p. 133. Golda Meir, Übersetzung von G. Piterberg. Sie basiert auf der hebräischen Ausgabe von 1991 (Seite 185).

13 Über Shamai Kahane, vgl. Bombaji-Sasportas, S. 100, 119 und 163–8.

14 SA/FO/CMDG 18/2402.

15 SA/FO/CMDG 18/2406. Das Komitee war im Zusammenhang mit der UN-Resolution 194 gegründet worden (Red.)

16 SA/FO/CMDG 19/4222, Bd. II.

17 SA/FO/A/2/2445 (a-948 II).

18 SA/FO/CMDG 2/2445 A (a-948 II).

19 Zit. nach Yitzhak Laor, Narratives with no Natives, S. 132. Laors kritische Arbeit ist der bislang beste Versuch zu zeigen, wie das literarische Establishment vom israelischen Staat dazu gebracht wurde, eine hegemonial wirkende Darstellung zu schreiben, die die Erinnerung der Palästinenser völlig ausblendet. Vgl besonders zu Amos Oz ‘The Sex Life of the Security Forces: and ‘We Write Thee Oh Homeland’, S. 76–105, 115–71.

 

 

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