Dr. Sabine Schiffer
sschiffer(at)arcor.de
Medienpädagogik
1.4.2005
Rezension: Meyer,
Hajo G. (2005):
Das Ende des Judentums. Der Verfall der
israelischen Gesellschaft.
Neu
Isenburg: Melzer Verlag. (SEMITedition) 314
Seiten, Taschenbuch – ISBN 3-937389-58-X.
Hinter dem
provokanten Titel verbirgt sich eine
Diskursanalyse, die weniger wissenschaftlich als
essayistisch angelegt ist – aber einem hohen
Anspruch genügt. Leicht lesbar und zugänglich,
spannend und erschreckend ergreift einen das
Buch. Dessen Inhalt ist gestützt durch
ausführliche Referenzen, die zum großen Teil aus
israelischen Quellen stammen. Es zeugt sowohl
von einiger Lebenserfahrung als auch einer
scharfen Beobachtungsgabe, was angesichts der
eigenen verletzenden Erlebnisse nicht
selbstverständlich ist. Genau die hieraus
resultierende Gefahr, dass nämlich eigene
schreckliche Erlebnisse ein Trauma ausgelöst
haben, beschreibt Meyer. Seiner Beobachtung nach
können viele Nachfahren der
Holocaustüberlebenden und die Übersolidarischen
kein Mitgefühl für anderes Leid mehr entwickeln.
Dies ist mit „moralischem Verfall“ gemeint, denn
hier werden Unrecht und sogar
Menschenrechtsverletzungen Tür und Tor geöffnet.
Wenn der Holocaust zum Maß aller Dinge
stilisiert wird, dann verblasst jede andere Form
von Diskriminierung vor dieser
Ungeheuerlichkeit. Aber, wir müssen feststellen,
dass das Beschwören der Einmaligkeit der
Nazi-Verbrechen eben keine neuen Verbrechen
verhindert und schon gar nicht die vorbereitende
Abwertung des Gegenübers, auf die Meyer in
seinem Buch abzielt.
Er kritisiert die
allgemeine Fixierung auf den Holocaust, wenn von
Nazi-Deutschland gesprochen oder an
Nazi-Deutschland gedacht wird. Diese Verengung
auf die Vernichtungsphase – die letzte und
grausamste – des Regimes, verstellt den Blick
für die schleichende Indoktrinierung durch
verbale Propaganda. Diese hat Meyer als Kind in
der frühen Phase des Nationalsozialismus und des
Krieges erlebt und weiß, wie sich Diffamierung
und schließlich juristische Diskriminierung
anfühlen. Die ständige Herabsetzung des
definierten Anderen führt schließlich zu seiner
Entmenschlichung. Er wird nicht mehr als
gleichwertiger Mensch angesehen und kann somit
leichter und tatsächlich unmenschlich behandelt
werden. Wenn auch diese Verbalattacken auf Juden
und andere „Gefahren“ nicht neu waren – der
Antisemitismus hat eine lange und zähe Tradition
– so haben sie doch in der Zeit Hitlers eine
neue und offizielle Qualität erhalten. Meyer
kommt zu einer differenzierten Ansicht darüber,
wann und wie es zum Ausrottungsgedanken gekommen
ist – wenn dies von Anfang an absehbar gewesen
wäre, wären wohl kaum so viele Betroffene so
lange in Deutschland geblieben. Er selbst
wanderte als 14-jähriger in die Niederlande aus
– ebenso die Gefahr unterschätzend -, um nach
den Folgegesetzen zur sog. Reichskristallnacht,
die u.a. jüdischen Kindern den Schulbesuch
untersagten, seine Ausbildung dort fortzusetzen.
Was es bedeutet, als Mensch zweiter Klasse zu
leben, dem das Recht auf Bildung und ein
gesicherter Bürgerstatus vorenthalten wird,
davon schreibt Meyer in sehr persönlichem Stil.
Auch wie er schließlich doch deportiert wird und
Auschwitz überlebt enthält er der Leserschaft
nicht vor.
Bemerkenswert ist,
dass er mit dem Abstand der Jahre und auf Grund
seiner Beobachtungen der jüngsten Zeit zu dem
Schluss kommt, dass die israelische Propaganda
gegen alles Arabische - und insbesondere die
Palästinenser - mit dem antisemitischen Diskurs
des frühen Nationalsozialismus durchaus
vergleichbar ist. Er macht dies an konkreten
Beispielen und Gegenüberstellungen deutlich wie
etwa die Verwendung einer bedrohlichen
Krankheitsmetaphorik zur Disqualifizierung des
Gegenübers. Wenn heute die Palästinenser als
„Krebsgeschwür“ bezeichnet werden, das man
mindestens „chemotherapieren“ müsse - wenn nicht
gar mehr, dann erinnert ihn das an genau
dieselbe Metaphorik, mit der er und seine
Verwandten in der Nazi-Zeit entmenschlicht
wurden. Hier wird Legitimation geschaffen dafür,
dass so vehement und unverhältnismäßig gegen
einen vermeintlichen Feind vorzugehen ist. Der
Autor geht schließlich so weit, in der etwas
verallgemeinert formulierten „isrealischen
Gesellschaft“ bzw. „dem Judentum“ – das er aber
wiederum differenzierend definiert - eine
Paranoia festzustellen, die vor einer
hochstilisierten Wahnvorstellung Angst habe.
Denn eigentlich verfügten die Palästinenser über
keine vergleichbare Macht. Aber auch diesen
bleibt Kritik nicht erspart und so wird das
ungünstige Wechselspiel deutlich, in dem sich
beide Parteien befinden. Meyer stellt sich hier
dezidiert auf die Seite des Schwächeren, zum
einen, weil er diese Position der Ohnmacht am
eigenen Leibe gespürt hat und zum anderen, weil
er einen hohen moralischen Anspruch an „das
jüdische Volk“ hat, das ja die soziale
Wertebildung in Europa positiv und wesentlich
beeinflusst habe. Umso schmerzlicher ist deshalb
für ihn die heutige Entwicklung. Am Ende
zeichnet er ein pessimistisches Bild für die
Zukunft Israels, eine sich selbst erfüllende
Prophezeihung: während die israelische Politik
aktiv die Vernichtung Israels herbeiführe, wird
man sich in der eigenen Propaganda genau
bestätigt fühlen, die ja seit Jahr und Tag daran
festhält, dass die Araber sie ins Meer jagen
wollen.
Einige sprachliche
Fehler und redaktionelle Unaufmerksamkeiten tun
der inhaltlichen Argumentation keinen Abbruch.
Das letzte Kapitel ist sehr theoretisch, aber
auch diese Überlegungen sind interessant und
lesenswert. Ansonsten würde ich Meyers
vorwortlichen Ratschlag nicht unbedingt befolgen
und die Kapitel durchaus in ihrer vorgegebenen
Reihenfolge lesen. Die Dichotomie von
Reformjudentum und Zionismus als die beiden
einzigen Pole jüdischer Entwicklung in der
Neuzeit lässt sich meiner Meinung nach nicht
aufrecht erhalten, da die antisemitische
Propaganda durchaus auch eine reaktionäre
konservative Bewegung hervorgerufen hat, die
sich etwa in der Frankfurter Gemeindespaltung im
19. Jahrhundert niedergeschlagen hat. Hier galt
die Rückbesinnung auf die alten Werte als
sinnvolle Reaktion auf die erneute Ablehnung
nach versuchter Assimilation. Ob und inwiefern
diese Lücke Auswirkungen auf die
Gesamtargumentation hat, bleibt zu klären. Auf
jeden Fall stellt das Buch eine spannende
Lektüre dar, die von reflektierten eigenen
Erfahrungen, einem großen Bildungs- und
Wissensschatz, menschlicher Wärme und einem
Blick für Werte und Wertungen zeugt. Diesem
wichtigen Buch sollte man viel Beachtung
wünschen - nicht, um „den Israelis“ einen
besserwisserischen Spiegel vorzuhalten. Ganz im
Gegenteil, da kann jeder vor der eigenen
Haustüre zu kehren beginnen. So, wenn etwa in
einer deutschen Zeitung von „Metastasenbildungen
islamischer Terrorzellen“ die Rede ist. Dennoch
will man daran festhalten, dass ehrliche
Auseinandersetzung Frieden ermöglicht in Nahost
und anderswo. Ein Frieden, der überall nur ein
wirklich gerechter sein kann. |