Einführung in die Ausstellung
„Palästinensische Kinder und Jugendliche zeichnen ihre
Welt-
Kinderbilder aus den Flüchtlingslagern im Libanon helfen
Fluchtursachen zu erkennen“
Ingrid
Rumpf
21.4.2016
Für all diejenigen, die die Arbeit unseres Vereins nicht kennen, ein
paar Worte zu „Flüchtlingskinder im Libanon“. Unser Verein hat Ende
Februar sein 20-jähriges Vereinsjubiläum in Tübingen gefeiert. Deshalb
freuen wir uns auch besonders, dass wir in diesem Jahr mit unserer
Thematik so gut in die Pfullinger Kulturwege passen und sehen die
Ausstellung auch als Teil unseres Jubiläumsjahres, an dem wir Sie auf
diese Weise teilhaben lassen möchten. In den 20 Jahren unseres Bestehens
konnten wir mehr als 2,5 Mill. Euro in unsere Projekte für die Menschen
in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon fließen lassen.
Seit Beginn der Syrienkrise geht unsere Hilfe nicht nur an die schon
lange im Libanon lebenden palästinensischen Flüchtlinge, sondern auch an
die Flüchtlinge aus Syrien, die zusätzlich in den palästinensischen
Flüchtlingslagern im Libanon Schutz und Aufnahme gefunden haben. Die
Hilfsorganisation, mit der wir seit 20 Jahren zusammenarbeiten, hat all
ihre Projekte, die vor allem Kindern und Jugendlichen zugute kommen,
auch für diese Flüchtlinge geöffnet.
Um die Bedeutung der Projektarbeit unserer Partnerorganisation für die
Betroffenen ermessen und die Inhalte der von den Kindern und
Jugendlichen gemalten Bilder nachvollziehen zu können, möchte ich Ihnen
ein paar Informationen über die Lage der palästinensischen Flüchtlinge
im Libanon geben. Der Hauptgrund für deren unerträgliche wirtschaftliche
und soziale Situation im Land sind die stark reglementierten
Arbeitsmöglichkeiten, die zur Folge haben, dass nur gut 5% der
Flüchtlinge ein rechtlich abgesichertes Arbeitsverhältnis haben. Die
palästinensischen Flüchtlinge dürfen weder im öffentlichen Dienst noch
in akademischen Berufen arbeiten. Auch in fast allen anderen Berufen
können sie legal nur mit Arbeitserlaubnis arbeiten, eine bürokratische
Bürde, die kaum ein Arbeitsgeber auf sich nimmt. Die Folge ist, dass sie
überwiegend als Hilfsarbeiter in der Baubranche und als Saisonarbeiter
in der Landwirtschaft arbeiten oder rechtlosen und schlecht bezahlten
Beschäftigungen nachgehen. Außerdem können sie nicht die staatlichen
libanesischen Schulen besuchen und sind von der öffentlichen
medizinischen Versorgung des Landes ausgeschlossen. Ein libanesisches
Gesetz von 2001 verbietet ihnen zudem den Erwerb von Immobilien
außerhalb der Flüchtlingslager und, falls sie bereits im Besitz von
Immobilien sind, deren Vererbung an ihre Nachkommen. Das verursacht
einen erheblichen Vertreibungsdruck. Mit dieser Situation sehen sich
natürlich auch die palästinensischen Flüchtlinge aus Syrien
konfrontiert, die seit Beginn der Syrienkrise im Libanon Schutz gefunden
haben. Sie haben selbst unter dem Assad-Regime ein erheblich besseres
Auskommen gehabt. Das staatliche Gesundheits- und Bildungswesen stand
ihnen in Syrien offen, sie konnten alle Berufe ergreifen und auch
außerhalb der Flüchtlingslager Eigentum erwerben. Der Schock über die
Zustände im Libanon hat dazu geführt, dass von den 90.000
palästinensischen Flüchtlingen aus Syrien, die sich noch 2013 im Libanon
aufhielten, mehr als die Hälfte das Land wieder verlassen haben und u.a.
nach Europa weitergeflüchtet sind. Die noch verbliebenen ca. 40.000
palästinensischen Flüchtlinge halten sich meist illegal im Land auf,
weil ihnen die Mittel für eine Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis
fehlen. Das hat Einfluss auf alle Lebensbereiche: selbst illegales
Arbeiten außerhalb der Flüchtlingslager wird unmöglich, Neugeborene
können nicht registriert, Bildungsabschlüsse nicht anerkannt und
Krankenhausbehandlungen nicht durchgeführt werden. Wer wollte da nicht
mit seiner Familie nach besseren Chancen in Europa suchen?
Die palästinensischen Flüchtlinge im Libanon sind seit Jahrzehnten
weitgehend auf die Hilfe der internationalen Hilfsorganisation UNRWA
angewiesen, der United Nations Relief and Works Agency for Palestine
Refugees in the Near East. Sie ist in den palästinensischen
Flüchtlingslagern für die Infrastrukturmaßnahmen zuständig, unterhält
Schulen, Berufsbildungseinrichtungen und medizinische Ambulanzen. Wegen
der schlechten Zahlungsmoral der Geberländer sind die Angebote der UNRWA
allerdings ständig unterfinanziert.
Neben der UNRWA sind es vor allem die privaten Hilfsorganisationen wie
unsere Partner, die das Überleben der palästinensischen Flüchtlinge und
den sozialen Zusammenhalt in den Flüchtlingslagern gewährleisten. So
haben unsere Partner in 10 der 12 Flüchtlingslager ihre Sozialzentren
errichtet, in denen sie neben medizinischen, Bildungs- und
Freizeitprojekten Sozialarbeit im weitesten Sinne anbieten. Das sind
Bildungsprojekte wie z.B. Kindergärten (ein Drittel davon
Flüchtlingskinder aus Syrien), Nachhilfekurse für GrundschülerInnen
(über die Hälfte davon Flüchtlingskinder aus Syrien), Förderklassen für
psychisch beeinträchtigte Mädchen, Berufsbildungskurse für Jugendliche
und junge Erwachsene (ein Drittel davon Flüchtlinge aus Syrien) Das sind
medizinische Projekte wie Zahnarztpraxen, psychotherapeutische und
psychologische Beratung und Behandlung Hunderter Kinder und ihrer Eltern
in familientherapeutischen Behandlungszentren (ein Viertel bis ein
Drittel davon auch hier Flüchtlinge aus Syrien, die besonders unter
traumatischen Erfahrungen leiden), Behandlung und Beratung von
Heranwachsenden in gynäkologischen und urologischen Ambulanzen verbunden
mit Aufklärungsworkshops von Jugendlichen für Jugendliche. Das sind
kulturelle und Freizeitprojekte wie Pfadfindergruppen, Fußballteams,
Tanz-, Musik-, Theater- und Malgruppen an den Wochenenden und an Fest-
und Feiertagen (auch hier sind ein Viertel bis ein Fünftel der
Teilnehmer Flüchtlinge aus Syrien). Viele dieser Projekte fördern wir
regelmäßig. Dazu konnten wir für mehr 150 Kinder aus besonders
bedürftigen Familien Patenschaften vermitteln, auch hier sind 40%
Flüchtlingskinder aus Syrien. Gerne und ausführlich können Sie sich über
unsere Flyer, unsere Rundbriefe, unsere ausliegenden
Projektbeschreibungen und unsere Info-Transparente über unsere Arbeit
informieren.
Heute steht nun eins der kulturellen Projekte unserer Partner im
Mittelpunkt: das Malprojekt. Wir haben unseren Partnern dafür in diesem
Jahr 2.300 $ für Material- und Transportkosten der TeilnehmerInnen
zugesagt und möchten den Erlös aus dieser Ausstellung in dieses Projekt
fließen lassen. Wenn Sie uns dabei helfen, freut uns das natürlich sehr.
Ziel des Projekts ist es, Kinder und Jugendliche ihre eigenen kreativen
Fähigkeiten entdecken zu lassen, sie mit den Arbeiten arabischer
Künstler vertraut
zu machen, damit das eigene kulturelle Erbe kennenzulernen und Identität
zu stiften. Die Kinder und Jugendlichen sollen in den Kursen die
Erfahrung machen, sich frei fühlen und ausdrücken, alle Sinne nutzen und
gestalterische Freude erleben zu können. Die Bilder hier sind im Jahr
2013 von Kindern und Jugendlichen überwiegend im Alter zwischen 10 und
18 Jahren gezeichnet worden.
Warum sind nun kulturelle Projekte unter den beschriebenen sozialen und
politischen Bedingungen für die Kinder so wichtig? Dazu muss man sich
auch die Schulsituation der Kinder vor Augen halten. Wegen der
begrenzten Ressourcen der UNRWA liegt der Klassenteiler z.Z. bei 50
Schülern pro Klasse, unterrichtet wird in Schichten vormittags und
nachmittags. Für kreative oder musische Lerninhalte gibt es weder Mittel
noch Raum, ebenso wenig für Sport-Unterricht. Die kreativen Fähigkeiten
der Kinder würden verkümmern, wenn nicht Hilfsorganisationen wie unsere
Partner diesem Mangel entgegen wirken würden. Das eintönige Grau und
Braun der Flüchtlingslager, in denen die Kinder leben und die sie nur
selten verlassen, beschränkt ihre Erfahrungswelt, die räumliche Enge und
der fehlende weite Horizont setzen dem Auge und damit der
Wahrnehmungsfähigkeit der Kinder enge Grenzen.
Der kulturellen und kreativen Verarmung versuchen unsere Partner, mit
ihren vielfältigen kulturellen Freizeitangeboten entgegen zu wirken. So
wie sie in ihren Sozialzentren viel Wert auf Farbe und Platz für
Bewegung legen, so statten sie ihre Volkstanz- und Theatergruppen mit
prächtigen farbigen Kleidern und Requisiten aus. Um der Tristesse im
Lager etwas entgegen zu setzen, hat z.B. eine Pfadfindergruppe vor
einiger Zeit zur allgemeinen Freude der Bewohner viele Häuser im Lager
mit knallbunten Farben bemalt. Und wenn wir hier die Zeichnungen der
Kinder und Jugendlichen anschauen, dann wird die Freude an Farbe auf
vielen Bildern spürbar.
Deutlich spürbar wird auf den Bildern auch, was diese Kinder und
Jugendlichen bewegt: die Geschichten ihrer Eltern und Großeltern von
Krieg, Flucht und Vertreibung: zuerst 1948 zur Zeit der Staatsgründung
Israels, als 100.000 der insgesamt 750.000 palästinensischen Flüchtlinge
im Libanon Aufnahme fanden, dann während des 16-libanesischen
Bürgerkriegs, in dem drei der ursprünglich 15 Flüchtlingslager zerstört
wurden, die wiederholten Angriffe der israelischen Armee auf den Libanon
oder im Jahr 2007, als ein Flüchtlingslager im Nordlibanon von der
libanesischen Armee dem Erdboden gleichgemacht wurde, weil sich dort
eine Gruppe überwiegend ausländischer bewaffneter Djihadisten
eingenistet hatte, und jetzt die Syrienkrise mit Hunderttausenden von
Flüchtlingen aus Syrien. Auch die Kämpfe und Auseinandersetzungen in
Israel/Palästina wirken über das Fernsehen, die Nachrichten und die
Parteinahme der Erwachsenen permanent in die Erlebniswelt der Kinder
hinein. Das Gefühl, Gewalt, Unrecht und Erniedrigung schutzlos
ausgeliefert zu sein und für die Zukunft keine Perspektive zu haben,
bestimmt den Lebensalltag der Kinder. Ihr Lebensalltag und damit die
Bilder werden aber auch bestimmt durch die Träume und Hoffnungen, von
denen sie und ihre Familien seit Jahrzehnten zehren.
Auf das eher Universelle der Kinderzeichnungen wird Gabi Frey-Bantle
nachher eingehen. Ich möchte dagegen noch etwas zu den eher politischen
Aspekten dieser Träume sagen, die auf den meisten Bildern zumindest
durchscheinen, bei einigen auch deutlich dominieren.
Im Vordergrund steht unverkennbar die Sehnsucht nach Palästina, dem
Heimatland der der Eltern und Großeltern dieser Kinder und der Traum von
der Anerkennung des Rechts auf Rückkehr. Tatsächlich ist dieses Recht
auf Rückkehr auch das einzige völkerrechtlich verbriefte Recht, auf das
die staatenlosen palästinensischen Flüchtlinge zumindest theoretisch
Anspruch erheben können. Diese Sehnsucht nach einem eigenen
palästinensischen Staat verbunden mit dem Traum nach Rückkehr zeigt sich
in etlichen typischen Symbolen. Leicht erkennbar ist die
palästinensische Flagge mit ihren Farben grün, rot, schwarz und weiß.
Ein anderes Symbol ist der Harram Asscharif, das Allerheiligste, mit dem
Felsendom und der Al-Aksa-Moschee in Ost-Jerusalem. Durch die
völkerrechtswidrige Einverleibung Ost-Jerusalems als Teil des Großraums
Jerusalem in den israelischen Staat und durch den von Israel stark
reglementierten und restriktiven Zugang fühlen sich die Palästinenser
permanent in ihren Rechten, aber auch in ihrer Religiosität und in ihrer
Würde verletzt.
Ein besonderes Symbol für die individuellen Ansprüche auf Rückkehr
und/oder Entschädigung ist der Schlüssel, der auf vielen Bildern zu
sehen ist. Unzählige palästinensische Familien verwahren bis heute den
Schlüssel zu ihrem Haus im heutigen Israel zusammen mit den
Besitzdokumenten feierlich in einer Schachtel und vererben ihn an ihre
Kinder. Es gibt übrigens eine israelische Friedensorganisation, Zochrot
– Wir erinnern -, die gegen große innerisraelische Widerstände versucht,
in Israel die Vertreibungsproblematik von 1948 bewusst zu machen, indem
sie z.B. Führungen zu den Hunderten von verlassenen und zerstörten
palästinensischen Dörfern in Israel anbietet. Diese Organisation hat
sich als Pendant zu dem palästinensischen Haustürschlüssel das
Schlüsselloch als Emblem erkoren.
Ein weiteres Symbol für den Flüchtlingsstatus ist der Handala, eine
Comic-Figur des palästinensischen Künstlers Naji Al-Ali. Sie stellt das
palästinensische Flüchtlingskind dar, das nicht bereit ist, seine Heimat
Palästina aufzugeben. Man sieht es immer von hinten, weil es unverwandt
auf seine Heimat zurückschaut und sich von niemandem das Recht auf
Rückkehr streitig machen lässt, weder von der internationalen oder der
israelischen Politik noch von den eigenen politischen Führern.
Auch wenn viele junge Palästinenser, vor allem, wenn sie und ihre
Familien ein wenn auch meist unsicheres Auskommen im Libanon gefunden
haben, den Libanon als ihre Heimat wahrnehmen, so ändert das doch nichts
an ihrer Sehnsucht nach Palästina und an ihrer Forderung nach einer
gerechten völkerrechtsentsprechenden Lösung des Konflikts. Wer
Fluchtursachen ernsthaft bekämpfen will, muss sich deshalb in Bezug auf
die palästinensischen Flüchtlinge im Libanon drei Fakten bewusst machen:
Er oder sie muss erstens die Hilfsorganisarionen vor Ort einschließlich
der internationalen UNRWA mit ausreichendenden Mitteln ausstatten, er
oder sie muss zweitens die libanesische Regierung dazu bringen, die
soziale und wirtschaftliche Lage der Palästinenser im Land zu
verbessern, was nur gelingen kann, wenn sich der Libanon nicht
demografisch bedroht fühlen, also nicht fürchten muss, die mehr als 10%
ganz überwiegend sunnitischen Palästinensern als libanesische
Staatsbürger einzubürgern
und er oder sie muss drittens bereit sein, bei der Lösung des
Nahostkonflikts die palästinensischen Anliegen ebenso zu würdigen wie
die israelischen. Dazu gehört, das durch Vertreibung und Enteignung
erlebte Unrecht und das völkerrechtlich verbriefte Recht auf Rückkehr
und/oder Entschädigung anzuerkennen und damit den Kern der
palästinensischen Identität zu respektieren. Der Blick ausschließlich
durch unsere westliche, insbesondere unsere deutsche Brille auf den
Nahostkonflikt wird den Tatsachen vor Ort nicht gerecht und wird einer
ernsthaften Lösung immer im Wege stehen.
Ingrid Rumpf, Pfullingen, 21.4.2016
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