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Starke Worte über Israel: „Apartheidstaat, Paria-Staat, oder gar ein
gescheiterter Staat“?
Dieter Neuhaus
Am
25.12.2009 berichtete die israelische Tageszeitung Haaretz in ihrem
Editorial über die „wachsende Sorge um Israels Image als freies und
demokratisches Land“. Was hat die angesehene Zeitung veranlasst,
ihre Sorge um Israels Zukunft in so deutlichen Worten und an so
herausragender Stelle, nämlich im Editorial, zum Ausdruck zu
bringen? Haaretz greift nur drei Ereignisse aus den letzten Tagen
auf, die Zeitung könnte aber die Zahl der Indizien für krasse
Fehlentwicklungen in Staat, Militär und Gesellschaft Israels mühelos
vervielfachen. Was ist also geschehen, was Haaretz so große Sorgen
macht?
Erstens: Eine friedliche Demonstration im arabischen Ost-Jerusalem
Vorort Sheikh Jarrah, die sich gegen die Vertreibung von
Palästinensern aus ihren Häusern durch rechtsextreme jüdische
Siedler wendet, wird von der Polizei mit brutaler Gewalt aufgelöst,
die 27 Demonstranten werden für Tage ins Gefängnis geworfen. Kaum
hat die israelische Staatsmacht die wenigen Teilnehmer der
Kundgebung beiseite geschafft, greifen jüdische Siedler in Sheikh
Jarrah mit großer Gewalt arabische Bewohner an, schlagen Kinder
krankenhausreif. Die israelische Polizei schreitet nicht ein.
Der zweite Anlass, der Haaretz Sorge um Israel begründet: Abdallah
Abu Rahmah, einer der Organisatoren und Teilnehmer der friedlichen
Freitags-Demonstrationen des palästinensischen Ortes Bilin gegen die
illegale israelische Besatzung, den Landdiebstahl und die Isolierung
des Ortes durch die auf palästinensischem Land verlaufende Mauer,
wurde Anfang Dezember 2009 vom israelischen Militär verhaftet. Die
Anklage der Besatzer: „Illegaler Waffenbesitz“. Um welche Waffen
handelt es sich? Man will es nicht glauben, aber das Militärgericht
der Besatzer meint es ernst, wenn es Abu Rahmah vorwirft, in seinem
Haus in Bilin einige der vielen Hundert Tränengaskanister und der
vielen Tausend sonstigen Geschosse gesammelt zu haben, die die
israelische Armee im Laufe der letzten Monate und Jahre auf
friedliche palästinensische Demonstranten abgeschossen hat und
weiter abschießt. Wozu hat Rahman das –nunmehr Gott sei dank
harmlose- Kriegsgerät gesammelt? Es dient als Anschauungsmaterial
für die vielen Besucher aus aller Herren Länder, die den bedrängten
Einwohnern von Bilin bei ihren friedlichen Demonstrationen gegen die
Mauer und die Besatzung zur Seite stehen, oft auch selbst an den
Demonstrationen teilnehmen und erschütternde Berichte über die
israelische Gewalttätigkeiten gegen die Menschen in Bilin in ihren
Heimatländern verbreiten. Die israelischen Besatzungssoldaten haben
schon Hunderte Bewohner Bilins und des Nachbarorts Nilin bei diesen
Demonstrationen verwundet, mehrere erschossen. Dutzende Bewohner
wurden in Israel inhaftiert. Ihre Schuld? Manche sollen mit Steinen
in Richtung der israelischen Soldaten geworfen haben. Im Gegensatz
dazu brauchen die Todesschützen des israelischen Militärs keinerlei
Sanktionen zu befürchten. Regierung und weite Teile der inzwischen
radikalisierten israelischen Gesellschaft applaudieren der
Brutalität der Besatzungsarmee.
Die dritte Sorge von Haaretz: Die unübersehbare, große Intoleranz
des Staates gegenüber Kritik bei gleichzeitiger unvorstellbar großer
Nachsicht gegenüber Gewaltakten der Gruppen, die der Regierung nahe
stehen, zum Beispiel von Siedlern im Westjordanland, oder Soldaten
der eigenen Armee. Haaretz vor wenigen Tagen: „Fotos von Soldaten,
die auf Demonstranten scharf schießen, sind aus den übelsten Regimes
bekannt“. Wer wird da gleich an den Iran denken?
Einen Tag nach Erscheinen des Haaretz-Artikels erschossen
israelische Undercoveragenten des Militärs in der palästinensischen
Stadt Nablus nachts drei unbewaffnete Palästinenser. Alles deutet
darauf hin, dass es sich um drei kaltblütig begangene Morde handelt.
Die soldatischen Mörder werden ohne Zweifel straffrei bleiben, zumal
ein maßgebliches Mitglied der israelischen Regierung die
Öffentlichkeit wissen ließ, dass es „stolz ist die erfolgreiche
Arbeit der Soldaten“.
Hätte Haaretz mit seinem Editorial noch einen Tag gewartet, hätte
die Zeitung noch einen weiteren Text aufgreifen können, in dem
Israels Verwandlung in einen „Pariah-Staat“ und einen „gescheiterten
Staat“ angedeutet wird. Dort werden thematisiert:
Ultra-Nationalismus, Rassismus, religiöser Fanatismus,
Siedler-Kolonialismus und menschenunwürdiges Verhalten gegenüber
Palästinensern allerorten begründen Sorgen um Israels Zukunft. Der
palästinensische Buchautor Ali Abunimah hatte sich jüngst unter der
Überschrift „Israel ähnelt einem gescheiterten Staat“ mit
besorgniserregenden Tendenzen in Israel auseinandergesetzt. Dazu
passt eine Anzeige, die „Gush Shalom“, wichtiger Teil der
israelischen Friedensbewegung, am 24.12.2009 in Haaretz geschaltet
hat. Zentrale Botschaft, deren Anlass der erste Jahrestag der
israelischen Angriffe auf den Gazastreifen ist: „Unser Ansehen in
der Welt - auf katastrophale Weise verschlechtert“. Und Gideon Levy,
der streitbare Haaretz-Journalist, fand vor wenigen Tagen die
bemerkenswerten Worte: „Man schämt sich, heutzutage ein Israeli zu
sein, noch viel mehr als vor einem Jahr“. Und: „Israels Bild in der
Welt- viel hässlicher als vor einem Jahr“ (als Israel den Krieg
gegen Gaza begann).
Israel, quo vadis?
Dieter Neuhaus 30.12.09