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Buchbesprechung
„Border Line. Palästina-Israel. Wer
zieht die Grenzen?“
Von Klaus-Peter Kaletsch. Wagner-Verlag
2009 ( www.wagner-verlag.de
). Preis: 22,90 Euro
Dieter Neuhaus
Kaletsch, Verfasser dieses beeindruckenden 600-Seiten-Werks, hat 16
Jahre, von 1992 bis 2008, als Regierungsberater in der
deutsch-palästinensischen Entwicklungszusammenarbeit in Palästina
und zeitweise auch in Israel gelebt und gearbeitet. Seine Aufgabe:
der Aufbau des palästinensischen Berufsbildungssystems, gemeinsam
mit seinen palästinensischen Counterparts. Der wichtigste von ihnen
war Hamid Zughair, dem Kaletsch unendlich viel an Einsichten und
Erkenntnissen zur Nahostproblematik verdankt. Und so hat Kaletsch
all die Jahre nicht nur die Systematik der israelischen
Besatzungsstrategie kennengelernt, sondern auch hautnah miterlebt,
wie Israel die Palästinenser unterdrückt. Er hat das Buch
geschrieben, weil er ein schlechtes Gewissen gegenüber dem
palästinensischen Volk hatte, denn er wusste aufs Genaueste Bescheid
über das, was der Staat Israel dem palästinensischen Volk seit
Jahrzehnten und so auch während seines vieljährigen Aufenthalts in
Palästina antat, während die Welt und auch die größten Teile der
deutschen Öffentlichkeit wegschauten und schwiegen. Für Kaletsch war
es das gleiche Schweigen, das der Generation Nazi-Deutschlands
vorgeworfen wird. Und daher will Kaletsch mit seinem Buch
informieren, aufklären, aufrütteln und nicht zuletzt auch
Denkanstöße zur Lösung des unerträglichen Konflikts geben. Kaletsch
macht kein Hehl daraus, auf welcher Seite er steht: es sind die
Palästinenser, die Israel um ihr Leben betrügt und deren Land und
Eigentümer es stiehlt. Er steht auf Seiten der Palästinenser, die in
den besetzten Gebieten rechtlos sind, die geschlagen werden, die
unschuldig in israelischen Gefängnissen sitzen und oft genug auch
noch gefoltert werden. Er bewundert die Palästinenser, die dennoch
nie ihre Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden, für sich und ihre
Kinder, aufgegeben haben. Es ist eindrucksvoll und authentisch, wenn
Kaletsch „sich mit Respekt vor dem palästinensischen Volk verneigt“.
Gleichzeitig betont Kaletsch mit voller Berechtigung die historische
Verantwortung der Deutschen gegenüber Juden.
Was macht dieses –in 10 Kapitel unterteilte- Buch nun so lesenswert?
Zum Ersten ist es die ausgesprochen spannende und lebendige
Verknüpfung der eigenen Erlebnisse des deutschen
Entwicklungshilfe-Beraters Kaletsch mit den Geschehnissen im
Israel-Palästina-Konflikt. Der Leser erhält Einblicke in das
schwierige Leben von Kaletschs Counterparts und ihren Familien.
Hunderte von Gesprächspartnern in ganz Palästina und Israel lassen
den Leser miterleben, was es heißt, unter israelischer Besatzung zu
leben. Kaletsch erhielt durch seine vielfältigen Arbeitskontakte
einen tiefen Einblick in die palästinensischen Verhältnisse, er
hatte selbst Gelegenheit zu Gesprächen mit Präsident Arafat. Zum
Zweiten läuft vor dem Auge des Lesers die ganze dramatische
Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts noch einmal ab
und ruft Ereignisse in Erinnerung, die nie vergessen werden sollten.
Zu ihnen gehören die Massenvertreibungen palästinensischer
Dorfbewohner und die Zerstörung Hunderter ihrer Dörfer im Jahre
1948, das Massaker in Deir Yassin, das 1982 unter israelischer
Aufsicht durchgeführte Massaker in den Flüchtlingslagern Sabra und
Chatila im Libanon unter Einsatz von Phosphor- und Streubomben, die
vollständige Zerstörung des Flüchtlingslagers Jenin im Jahre 2002
mit Hunderten getöteten Palästinensern und zuletzt auch Israels
Krieg gegen die Bevölkerung von Gaza im Winter 2008/09, mit fast
1.500 Getöteten und 5.600 Verwundeten. Wer bisher geglaubt hat, die
unvorstellbare Brutalität der israelischen Armee in Gaza sei etwas
noch nie Dagewesenes, vielleicht eine Art „Ausrutscher“ gewesen,
erfährt in Kaletschs Buch die bittere Wahrheit: 2002 in Jenin hat
sich die israelische Armee genauso verhalten, wie sie es in Gaza
tat: die Rettungskräfte durften verwundete Palästinenser nicht
bergen und wurden selbst beschossen, Tausende oft noch bewohnte
Häuser wurden massenhaft zerstört, unbewaffnete Frauen, Männer und
Kinder wurden ohne Vorwarnung beschossen und in großer Zahl getötet.
Kaletsch zitiert den israelisch-jüdischen Anwalt Shamai Leibowitz,
der nach den Massakern in Jenin harte Worten für Israel fand: Er
hielt seinem Staat vor, Kriegsverbrechen begangen zu haben, eine
grausame und barbarische Besatzungsmacht zu sein, sich wie eine
Diktatur benommen zu haben. Er kommt zum Schluss, dass Israel als
Kolonialregime inzwischen selbst zu einer Terrororganisation
geworden sei. An mehreren Stellen zitiert Kaletsch Juden, die sich,
wie er selbst, allergrößte Sorgen machen um den Weg, den Staat und
Gesellschaft Israels eingeschlagen haben und den sie trotz aller
Kritik weiter verfolgen. Die wichtigsten unter diesen Juden sind Uri
Avnery, Avraham Burg und Noam Chomsky.
Den Titel seines Buchs „Border Line. Palästina-Israel -Wer zieht die
Grenzen?“ hat Kaletsch klug gewählt. Er spielt darauf an, dass
Israel solange kein Partner für den Frieden mit den Palästinensern
sein kann, wie dieser Staat sich weigert, seine Grenzen eindeutig,
abschließend und in Übereinstimmung mit internationalen
Vereinbarungen festzulegen. Und er spielt darauf an, dass Israel es
bislang nicht geschafft hat, seine eigenen Grenzen zu erkennen: im
Verhalten den Palästinensern gegenüber, gegenüber den nur allzu
berechtigten Forderungen der Völkergemeinschaft und in Bezug auf die
Standards seines politischen und „moralischen“ Handelns.
Das Buch enthält ein sehr nützliches 40-seitiges Indexverzeichnis,
das gründliche Auskunft gibt über die Personen, Politiker und
Organisationen auf palästinensischer und israelischer Seite. Hier
sind auch die wichtigsten UN-Resolutionen und Abkommen in
konzentrierter Form dargestellt.
Kaletsch wusste, dass es ein großes Privileg war, mitten in einem
der größten und längsten Konfliktherde der letzten Jahrzehnte
arbeiten zu dürfen. Und er hat die Chance genutzt, über das zu
berichten, was er an israelischem Unrecht, Gewalt und Ignoranz
hautnah erlebt hat. Kaletsch ist sich des Risikos bewusst, dass
mancher ihn des Antisemitismus bezichtigen könnte. Er schreibt: „Wer
dieses Buch als antisemitisch begreift, erkennt den wahren
Beweggrund nicht“. Er versteht sein Buch als Beitrag zur
Aufbereitung der Geschichte Israels und des jüdischen Volkes, sowie
zur Gegenwartsbewältigung. Für Kaletsch ist klar: die gesamte
israelische Gesellschaft muss umdenken, wenn es für den jüdischen
Staat eine friedliche Zukunft geben soll. Für das Verhalten des
Staates Israel und insbesondere seiner Sicherheitskräfte findet
Kaletsch oft harte, aber treffende Worte. Während seiner Arbeit an
der Seite der Palästinenser kommt es immer wieder zu Konfrontationen
zwischen ihm und aggressiven Besatzungssoldaten sowie Siedlern, die
sich als „bewaffnete Rambos“ oder „Skinheads“ hervortun. Und immer
wieder schildert Kaletsch, wie er auf heftigen antiarabischen
Rassismus bei seinen israelisch-jüdischen Gesprächspartnern stößt.
Er beklagt zu Recht die Unwissenheit und Ignoranz der Mehrheit der
israelisch-jüdischen Bevölkerung, was die Realität der staatlichen
Besatzungs- und Gewaltpolitik und ihre schwerwiegenden Folgen für
das Leben der Palästinenser anbetrifft. Dabei unterschlägt Kaletsch
keinesfalls den „Islamo-Terror“ und die Gewalttaten der Hamas, die
den berechtigten Anliegen der Palästinenser so sehr geschadet haben.
Er ruft in diesem Zusammenhang in Erinnerung, dass die Hamas unter
enger Mitwirkung des früheren israelischen Ministerpräsidenten Begin
gegründet worden war. Ziel war die Destabilisierung der Fatah unter
Arafat.
Das Buch ist voll mit überraschenden Geschichten und Ereignissen,
die sich aus Kaletschs Arbeit im Projekt „Berufsbildungssystem für
Palästina“ ergeben. Zwei Beispiele: mehrfach hat er Kontakt zu
Yassir Arafat und nimmt an spannenden Gesprächen mit dem PLO-Führer
teil. Und Ende Oktober 2005 erreichte Kaletsch in Deutschland die
Nachricht, dass sein langjähriger Counterpart und Leiter der
Berufsausbildung Hamid Zughair in Palästina verstorben sei. Erst
jetzt erfuhr Kaletsch, dass sein engster Arbeitskollege und Freund
Zughair 1988 die Hamas mitbegründet hatte: gemeinsam mit Rantisi und
Scheich Yassin, die später beide von Israel ermordet wurden. Zughair
hatte sich in der Folge von der Hamas getrennt, nachdem diese den
Weg des Terrors als Antwort auf israelische Gewalttaten einschlug.
Welche Perspektiven sieht Kaletsch für ein dauerhaftes Ende des
Nahostkonflikts? Er ist überzeugt, dass wir (die Europäer und die
Deutschen) „den Schlüssel für ein Ende des Konflikts, für ein Ende
der Unmenschlichkeit in Nahost und für ein Ende des Islamo-Terrors
in der Hand halten. Wir brauchen die Tür nur aufzuschließen“. In
dieser doch recht optimistischen Einschätzung wird ihm nicht jeder
Leser folgen wollen, und auch Kaletsch selbst scheint Zweifel zu
haben. Im letzten Satz seines Buchs schreibt er vom sorgenvollen
„Abwarten, was sonst noch alles auf uns zukommt“.
Dem engagierten und kompetenten Verfasser kann bescheinigt werden,
ein spannendes und äußerst kenntnisreiches Buch zum
Israel-Palästinakonflikt vorgelegt zu haben. Ein Buch, das den
Tatsachen des Nahostkonflikts ins Auge sieht, das dessen Ursachen
aufdeckt und das die Auswirkungen auf uns alle und auf die
Weltpolitik verdeutlicht - ein Buch, das die Wahrheit nicht leugnet.
Kaletschs Buch zeichnet sich durch Wahrhaftigkeit aus und ergänzt
die vorhandene Literatur zum Israel-Palästinakonflikt in
hervorragender Weise. Es könnte, ja sollte eines der Standardwerke
zu diesem brisanten Thema werden.