Weitere Texte von Mohssen Massarat
Reform durch Revolution
Beginn eines neuen Abschnitts in der
Geschichte Irans
Mohssen Massarrat*
15. Juni 2009
„Wenn die da
unten nicht mehr wollen und die da oben nicht mehr können, dann
entsteht eine revolutionäre Situation.“ Diese auf Lenin
zurückgehende Beschreibung der revolutionären Situation ist
jetzt (Montag, 15. Juni, 22 Uhr) in der Islamischen Republik
Iran eingetreten.
Der in Gang
gekommene, bisher glücklicherweise gewaltfreie Aufruhr ist nicht
mehr zu stoppen. Die Gegner der Diktatur haben keine Angst vor
den Schlägertrupps der Basidji-Milizen, der paramilitärischen
Verteidiger des Systems. Diese werden vielmehr in die Flucht
geschlagen. Die um ihre Stimme Betrogenen und Gedemütigten
befreien sich von ihrer Lethargie. Sie fühlen sich zu
Hunderttausenden auf den Straßen von Teheran als eine geballte
Kraft, die stark genug ist, um sich gegen die Beleidigungen
eines populistischen Machthabers zu wehren, der sich seiner mit
Geldgeschenken gekauften Macht und der Legitimation eines
uneinsichtigen geistlichen Staatsoberhaupts sicher wähnte.
Der kalte Putsch
durch die offensichtliche Fälschung der Wahlergebnisse scheint
gescheitert zu sein, vor einem heißen Putsch dürfte sich
Ayatollah Khamenei fürchten. Die Allianz zwischen dem
geistlichen Staatsoberhaupt und dem missionarisch
machtbesessenen Präsidenten Ahmadinedschad hat einen tiefen Riss
bekommen.
Heute steht Iran
in derselben Situation wie vor 30 Jahren im Februar 1979. Damals
ging es darum, die Monarchie zu beenden und das System zu
stürzen, heute geht es vielmehr darum, das System des
Gottesstaates durch eine friedliche Revolution zu reformieren
und die Barrieren für eine echte Demokratisierung freizulegen.
Mir Hussein
Mussawi wagte als erster in der Geschichte der Islamischen
Republik, dem Votum des geistlichen Staatsoberhaupts zu
widersprechen. Er ignorierte schlicht dessen Votum, das
Wahlergebnis zu akzeptieren und sich hinter den gewählten
Präsidenten zu stellen. Die sonst übliche Masche „Dem Feind
sollte durch innere Einheit eine Absage erteilt werden“, hat
diesmal nicht gezogen. Offensichtlich hatte Ayatollah Khamenei
mit dem Mut und der Risikobereitschaft von Mussawi nicht
gerechnet. Durch seine Entschlossenheit, den Wahlbetrug nicht zu
akzeptieren und für die Durchsetzung des Volkswillens zu
kämpfen, ermutigte Mussawi seine Wähler zu einem Aufbruch. Auch
die Wähler widersetzten sich fest entschlossen und ohne Angst
vor der Staatsgewalt dem Demonstrationsverbot und ermutigten so
ihrerseits Mussawi nicht nachzugeben.
Diese sich
wechselseitig verstärkende soziale Energie mündete binnen zwei
Tagen in eine Art revolutionäre Situation. Ahmadinedschad mag
nun versuchen, das Staatsoberhaupt für den nächsten und
vielleicht allerletzten Schritt, nämlich den heißen Putsch,
hinter sich zu bringen. Doch würde Ayatollah Khamenei aller
Wahrscheinlichkeit nach diesen Schritt nicht mehr riskieren.
Ahmadinedschad ging es bisher um seine eigene Macht und die
Macht seiner Klienten, die er mit den dem Volk gestohlenen
Ölmilliarden hinter sich brachte. Mit dem Rücken zur Wand würde
er daher jetzt alles auf eine Karte setzen.
Khamenei geht es
dagegen um den Systemerhalt und steht daher vor der Alternative,
Ahmadinedschad zu folgen und damit seine eigene Macht und die
Legitimation des gesamten Systems aufs Spiel zu setzen oder aber
Ahmadinedschad im Interesse des Systemerhalts zu opfern. Denn im
Unterschied zu dem verblendeten Präsidenten muss das geistliche
Staatsoberhaupt damit rechnen, dass ein Teil der Streitkräfte
den heißen Putsch gegen die Bevölkerung nicht mitträgt und dass
die Rechnung Ahmadinedschads abermals nicht aufgeht. Ein
erneutes Scheitern nach dem Wahlbetrug, nun auch nach einer
Zustimmung zum Gewalteinsatz würde das Ende der Islamischen
Republik einläuten.
Deshalb werden
wir mit der überwältigenden Mehrheit der Menschen im Iran –
hoffentlich – in den nächsten Stunden und Tagen Zeugen einer
revolutionären Reform werden, die im Endeffekt dem System des
Gottesstaates durch eine friedliche Revolution die
diktatorischen Zähne zieht und den Weg für einen neuen und
besseren Abschnitt in der Geschichte Irans freilegt. Ayatollah
Khamenei bleibt einzig und allein die Wahl, dem Wächterrat
nahezulegen, nicht erst in zehn Tagen, sondern sofort Neuwahlen
zu beschließen.
Es dürfte den
Herren im Wächterrat auch nicht schwer fallen, sich theologische
und politische Rechtfertigungen einfallen zu lassen, um
Khameneis Gesicht zu wahren. So oder so, die Islamische Republik
Iran wird nie wieder so sein, wie sie bis vor dem Wahlbetrug
war. Das Ende des Gottesstaates würde allerdings noch lange
nicht ein Ende der Islamischen Republik implizieren. Denn die
Reformbewegung in ihren nicht zu vernachlässigenden
Bestandteilen (Mussawi selbst, Khatami, Karrubi und zahlreiche
andere Führungspersönlichkeiten mit sozialer Basis)
identifiziert sich weiterhin mit einer Republik Iran, die ein
islamisches Gesicht hat.
Die Islamische Republik spaltete
von Anfang an die Gesellschaft in zwei Teile, in den
systemtragenden und den systemkritischen Teil. Dank des aktiven
Einmischens des systemkritischen Teils gewann 1997 und 2001 der
Reformer Mohammad Khatami mit überwältigender Mehrheit die Wahl
zum Staatspräsidenten. Durch Khatamis mangelnden Mut und
fehlende Risikobereitschaft, die moralische Kraft des
Volkswillen für echte politische und soziale Reformen zu nutzen,
zog sich der systemkritische Teil der Gesellschaft resigniert
zurück. Dadurch konnte 2005 der Populist Ahmadinedschad die
Wahlen überhaupt erst gewinnen. Im Juni 2009 entdeckte der
systemkritische Teil der Gesellschaft ziemlich am Ende des
Wahlkampfes erneut seine Chance und beschloss, den Fehler von
2005 nicht zu wiederholen. Alle Oppositionsgruppen, die mit dem
Argument, „das System des Gottesstaates nicht legitimieren zu
wollen“ zum Wahlboykott aufriefen, wurden durch den spontan
artikulierten Volkswillen eines Besseren belehrt.
Die
Wahlboykotteure übersahen den zweiteiligen Charakter der
iranischen Gesellschaft und damit die Möglichkeit, dass der
Gottesstaat gerade durch Wahlen auch delegitimiert werden kann.
Die Grundlagen einer durch revolutionäre Reformen in Gang
gebrachten Abschaffung des Gottesstaates sind in der Verfassung
eben dieses Staates selbst angelegt, die Gesellschaft de facto
in einen systemtragenden und einen durch das System
ausgegrenzten Teil zu spalten – ähnlich wie damals der
südafrikanische Apartheid-Staat, der ein jähes Ende gefunden
hat.
*
gebürtiger Iraner.
Professor (i. R.) für Politik und Wirtschaft an der Universität
Osnabrück
© inamo Nr. 58, Sommer 2009. S. 41-44
Revolutionen finden statt, wenn die da oben
nicht mehr können und die da
unten nicht mehr wollen. Diese zutreffende
Erklärung Lenins trifft auch auf die
Islamische Revolution im Iran zu. Mohammed Reza
Pahlewi, der letzte Monarch
einer 2500 Jahre alten Herrschertradition, war
nicht nur als Tyrann und als ein
durch einen CIA-Putsch auf den Thron gehievter
Monarch vom Volk verhasst.
Er hatte auch Ende der 1970er Jahre keinen Halt
innerhalb der Herrscherelite
mehr. Es folgte der Sturz der Monarchie und der
Beginn einer revolutionären
Umwälzung unter islamischem Vorzeichen unter der
Führung von Ayatollah
Khomeini und der Beteiligung des iranischen
Bürgertums, das jedoch an
seiner eigenen Entscheidungsschwäche im Kampf
für Meinungs- und
Pressefreiheit scheiterte. Unter Ahmadinejad
manövriert sich der Staat immer
mehr in die Sackgasse. Für Massarrat steht jetzt
die Überwindung der
Selbstblockade der Islamischen Republik auf der
politischen Agenda.
30 Jahre Islamische Revolution: Fortschritt,
Rückschritt, Stillstand
Von Mohssen Massarrat
Der „letzte Kaiser“ von Iran hatte den Weg der
absolutistischen Monarchie dem
europäischen Weg der repräsentativen Monarchien
vorgezogen. Dank sprudelnder
Öleinnahmen in den 1970er Jahren war Reza
Pahlewi der Illusion verfallen, er könne
durch den Ausbau der Armee und umfangreicher
Aufrüstung die Machtbasis für eine
dauerhafte Alleinherrschaft klientelistisch, d.
h. von oben nach unten und durch Geld
und Posten, ausbauen. Seine Strategie musste
aber scheitern. Der Iran war im
Unterschied zum Irak, zu Libyen oder zu den
Scheichtümern am Persischen Golf
schon lange keine Stammesgesellschaft mehr. Die
Soldaten seiner neuen und auf
400 000 Mann rasant ausgebauten Armee waren
Söhne der sozial und kulturell
entwurzelten Bauern.
Der Konsumrausch und die importierte westliche
Kultur mag zwar die Reichen und
die herrschende Elite befriedigt haben, die
Soldaten und die große Mehrheit
traditionalistischer und durch die rasante
Verwestlichung verunsicherter Iranerinnen
und Iraner fanden jedoch im Islam und der
eigenen Tradition den verlässlicheren
Halt, den sie gerade brauchten. Die Spaltung der
Gesellschaft in eine pseudomodernisierte
aber mächtige Minderheit und eine politisch
religiös radikalisierte aber
machtlose Mehrheit wurde unüberwindbar.
Sturz der Monarchie
Schließlich folgte die überwältigende Mehrheit
einschließlich der einfachen Soldaten
dem Ruf einer Bewegungsallianz aus radikalen
Mullahs und Intellektuellen, die mit
ihrer Kritik der Verwestlichung und der
aufgesetzten Scheinmodernisierung durch die
Monarchie überall im Land Millionen
Marginalisierte, Landflüchtige, Tagelöhner,
traditionelle Händler und Angehörige der
Mittelschicht, Studenten und Schüler
mobilisierten und den Weg für den
vergleichsweise gewaltlosen Sturz der Monarchie
freilegten. Den letzten Ausschlag für den Sturz
der Monarchie und den Beginn einer
revolutionären Umwälzung unter islamischem
Vorzeichen gab allerdings Ayatollah
2
Khomeini. Der charismatische Revolutionsführer
trat, im Unterschied zu allen
anderen politischen Führern, für die Abschaffung
der Monarchie ein. Durch seine
kompromisslose Haltung und die Ablehnung
jedweder Versuche, die
abgewirtschaftete Monarchie doch noch zu
erhalten, gewann er bei allen Gegnern
der Monarchie eine unerschütterliche Autorität
und Legitimation, die er benötigte, um
die Islamische Republik aus der Taufe zu heben.
Grundsätzlich wäre nach der Revolution auch die
Entstehung einer islamisch
demokratischen Republik möglich gewesen.
Tatsächlich entstand aber ein
islamischer Staat, der sich durch den
„göttlichen Willen“ legitimierte. Legislative (das
Parlament) und Exekutive (der Präsident) sind im
neuen politischen System dem
Alleinvertretungsanspruch des Religionsführers
untergeordnet, der sich im Zweifel
gegen das Volk stellen und auf seinen göttlichen
Auftrag beziehen kann.
Ohne Monarchie in die Sackgasse
30 Jahre nach Abschaffung der Monarchie sitzt
die neue islamische Herrschaftselite
zwar machtpolitisch fest im Sattel, politisch
hat sie sich aber in dieselbe Sackgasse
hineinmanövriert, wie seinerzeit der Schah Reza
Pahlewi. Auch sie hat sich die
Fesseln eines
rentiersstaatlich-klientelistischen Herrschaftssystems angelegt,
das die
Transformation Irans in die Moderne blockiert.
Gegenwärtig ist eine Perspektive für
Entwicklung und Demokratisierung der
Gesellschaft, selbst im Rahmen eines
islamischen Wertekodex und einer islamisch
rechtsstaatlichen Verfassung, nicht in
Sicht (Ausführlich dazu M. Massarrat: Irans
wirtschaftliche Miseren,
inamo
Nr. 54,
Sommer 2008).
Der Rentiersstaat orientalischer Prägung weist
drei Merkmale auf: er steht in der
Tradition des asiatisch-orientalischen
Zentralismus und Despotismus, er finanziert
sich nicht durch Steuern, sondern durch externe
Finanzquellen, vor allem durch die
Ölrenteneinnahmen, und er verfügt auch über das
Privileg, die eigene Machtbasis
selbst zusammenzuschmieden, sie ist also in der
Lage, klientelistische
Abhängigkeitsbeziehungen zu kreieren. Der
Monarchie gelang zwar die Schaffung
einer loyalen Machtbasis, sie war allerdings
nicht stark genug, um das Regime von
Schah Reza Pahlewi vor politischen Turbulenzen
nachhaltig zu schützen.
Die neuen islamischen Machthaber erfreuten sich
dagegen einer unvergleichbar
größeren sozialen Trägerschaft mit
revolutionärem Impetus. Es gelang ihnen, ihren
islamischen Staat im ersten Jahrzehnt nach der
Revolution von 1979 trotz oder
gerade wegen eines acht Jahre andauernden
Krieges gegen den Irak unter Saddam
Hussein zu festigen. Es entstand eine
zweigeteilte, zahlenmäßig annähernd gleich
große Gesellschaft: eine den neuen Machthabern
loyale klassenübergreifende
islamische Gesellschaft mit traditionalistisch
orientierten sozialen Schichten. Diese
Gesellschaft war privilegiert, hatte also
direkten Zugang zu den Öleinnahmen, zu
staatlichen Institutionen, zu Machtorganen, zu
staatlich kontrollierten
Wirtschaftsunternehmen und sonstigen Vorteilen.
Und eine zweite ebenfalls
klassenübergreifende, der Moderne zugeneigte
Gesellschaft jenseits der islamischen
Loyalitätsbeziehungen, d. h. ohne Zugang zu
Öleinnahmen, ohne politische Rechte
und ohne Einflussmöglichkeiten. Für diese
parallelen Gesellschaften machten
authentische Begriffe die Runde: Khodi und
Ghaire Khodie (die von uns und die
Anderen, die nicht zu uns gehören). Da die
Grenzen zwischen beiden Gesellschaften
fließend sind, war und ist es einer
beträchtlichen Zahl besonders cleverer
geldgieriger Charaktere, Spekulanten und
korrupten Personen möglich gewesen
3
Loyalitäten vorzutäuschen, um umso dreister an
den Renteneinnahmen zu
partizipieren.
Das Reformlager unter Khatami
Inzwischen ist der ursprünglich politisch
halbwegs homogene islamische Teil der
Gesellschaft in mindestens drei konkurrierende
Lager zerfallen, in das reformistische,
das pragmatisch konservative und das
konservativ-radikale Lager. Das islamische
Reformlager unter dem Präsidenten Mohammad
Khatami unternahm nach seinem
überraschenden Sieg 1997 den zaghaften Versuch,
die durch Korruption
durchsetzten rentiersstaatlich-klientelistischen
Strukturen durch rechtsstaatliche zu
ersetzen. Obwohl Khatami aus beiden
Gesellschaftsteilen mit ca. 80 % der Stimmen
gewählt wurde, scheiterte er vor allem an der
Blockadepolitik der konservativradikalen
Kräfte und der uneingeschränkten Macht des
Revolutionsführers. Eine
wichtige Rolle spielte wohl auch die mangelnde
Entschlossenheit des Präsidenten,
der aus Angst, das System insgesamt zu
gefährden, fast immer den Kürzeren zog.
Des weiteren versäumte die Reformbewegung,
wenigstens ein vorzeigbares soziales
Projekt, wie z. B eine gesetzliche
Krankenversicherung oder
Arbeitslosenversicherung etc., in die Diskussion
zu bringen und auch durchzusetzen.
Stattdessen beschränkte sie sich auf politische
Reformen, somit lediglich auf das
Herzensanliegen der Intellektuellen, die eher
dazu führten, die konkurrierenden
konservativen Strömungen gegen den Präsidenten
und die politischen Reformen,
wie beispielsweise ein neues Pressegesetz, das
mehr Meinungsfreiheit bringen
sollte, zu verbünden. Zwar sind Reformen im
politischem System und eine
Demokratisierung der Islamischen Republik
unabdingbar. Jedoch müssen sie mit
dringenden sozialen Reformen verknüpft und in
einer Allianz mit im Machtapparat
verankerten Strömungen auch machtpolitisch
abgesichert werden.
Ahmadinejad: Vom Bürgermeister Teherans zum
Präsidenten Irans
Genau im sozialpolitischen Vakuum ansetzend,
konnte der populistische
Bürgermeister von Teheran, Ahmadinejad, mit dem
Slogan, er werde die
Öleinnahmen auf die Essenstische der Menschen
bringen, die enttäuschte
Bevölkerung überraschend für sich mobilisieren.
Mit dem neuen Präsidenten
Mahmud Ahmadinejad wurde seit dessen Wahlsieg
2005 das alte System des
unkontrollierten Zugangs zu den Öleinnahmen
zielstrebig restauriert, um es für die
Absicherung der eigenen sozialen Basis für die
nächste Präsidentenwahl konsequent
auszubauen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass
sich die Nutznießer des Systems
erneut zu einer Mehrheit bei der nächsten
Präsidentenwahl im Juni dieses Jahres
verhelfen könnten.
Die Politik und vor allem die Verwendung der
Öleinnahmen folgen in diesem System
nicht der Logik einer soliden ökonomischen
Entwicklung und zum Wohl des
gesamten Volkes, sondern vielmehr der Logik der
Erweiterung der eigenen
Machtbasis. Die ökonomischen und sozialen Folgen
dieser Politik des konservativradikalen
Lagers in den letzten vier Jahren sind daher für
Iran verhängnisvoll:
steigende Inflation, Bodenspekulation, sich
vergrößernde Kluft zwischen Armen und
Reichen, wachsendes Misstrauen der Menschen
gegenüber der Elite der
Islamischen Republik und eine sich ausbreitende
Resignation in der Opposition, im
gegenwärtigen Stillstand weiter verharren zu
müssen. Dieses Ergebnis einer in die
Sackgasse geratenen gesellschaftlichen
Transformation nach dem Sturz des
Pahlawi-Regimes steht in krassem Widerspruch zu
den gesellschaftlichen Reformund
Transformationspotentialen des Landes in
ökonomischer, kultureller und
4
intellektueller Hinsicht. Diese Entwicklung war,
wie eingangs erwähnt, keineswegs
zwingend.
Die Rolle des Bürgertums
Irans Bürgertum war angesichts
staatskapitalistisch-zentralistischer Strukturen zwar
ökonomisch immer schwach, politisch jedoch
aufgrund dessen aktiver Teilnahme an
mehreren politischen Umwälzungen im
20.Jahrhundert der ökonomischen
Entwicklung weit voraus. Das iranische Bürgertum
beteiligte sich an der ersten
Revolution zur Abschaffung der absoluten
Monarchie Anfang des 20. Jahrhunderts
und an der Demokratisierung und Nationalisierung
der Ölindustrie in den 1950er
Jahren. Zum politisch einflussreichen Bürgertum
gehörten national verankerte
Industrielle und Händler sowie Intellektuelle
aus allen Schichten und Berufszweigen.
Doch scheiterte dieses Lager teilweise auch an
eigener Entscheidungsschwäche und
an der Risikobereitschaft seiner politischen
Eliten immer dort, wo Standhaftigkeit
gefordert war, nämlich bei der Verteidigung der
Presse- und Meinungsfreiheit:
Dies betrifft zum einen das Verbot der
wichtigsten linksliberalen Tageszeitung
„Ayandegan“ ein halbes Jahr nach der Revolution,
die sich zu der auflagenstärksten
Zeitung und zum Sprachrohr des laizistischen
Lagers entwickelt hatte. Zu diesem
Zeitpunkt standen sich die Protagonisten der
radikal-islamischen wie auch der
islamisch-liberalen Ordnung als reale Optionen
gegenüber. Der islamisch-liberale
und charismatische Mehdi Bazargan, der erste
Ministerpräsident nach der Revolution
mit Rückhalt in allen bürgerlichen Schichten,
versäumte es allerdings, sein
politisches Schicksal mit dem Erhalt der
Tageszeitung „Ayandegan“ und der
Verteidigung der Pressefreiheit zu verknüpfen.
Die Chancen, den Kampf zu
gewinnen, standen angesichts der noch
ungebrochenen Stimmung für Freiheit und
Demokratie nicht schlecht. Mit dem Verbot der
Zeitung wurde der hegemoniale Elan
für die Demokratie jedoch durch Angst und
Unsicherheit verdrängt, die dadurch erst
Recht forcierte Islamisierung überrollte alsbald
auch Bazargan selbst und seine
einflussreiche Freiheitsbewegung.
Zum zweiten fand sich der 2001 gerade mit
überwältigender Mehrheit
wiedergewählte Staatspräsident Mohammad Khatami,
trotz einzigartig starker
Stimmung für Meinungsfreiheit und
Demokratisierung des Systems, ziemlich
geräuschlos damit ab, dass sein dem Parlament
vorgelegter Entwurf für ein neues
Pressegesetz auf eine Anordnung des
Revolutionsführers hin von der Tagesordnung
abgesetzt und nicht einmal im Parlament
diskutiert werden durfte. Angesichts dieser
Schmach hätte Khatami das Risiko einer offenen
Auseinandersetzung mit dem
absolutistischen Anspruch des Revolutionsführers
auf sich nehmen und zurücktreten
müssen. Denn die Chancen einer machtvollen
Unterstützung durch das Volk, um den
Revolutionsführer zur Rücknahme des religiösen
Dekrets zu bewegen, standen m. E.
nicht schlecht. Immerhin hatten auch Angehörige
der Machtorgane
(Revolutionswächter und Armee) mit großer
Mehrheit wenige Wochen zuvor für
Khatami gestimmt. Die Folge der fehlenden
Entschlossenheit des Präsidenten selbst
bei der Durchsetzung von einem der wichtigsten
Projekte politischer Reformen
(dazu, wie oben begründet, das Fehlen
komplementärer sozialer Reformprojekte)
war die abermalige Stärkung des
islamisch-antidemokratischen Lagers innerhalb des
Systems und der Verlust der eigenen
Glaubwürdigkeit.
Pressefreiheit ist ein hohes Gut und ein
fundamentales Prinzip der Demokratie.
Daher ist sie auch unverhandelbar. Verteidiger
der Demokratie, die darüber
5
hinwegsehen, haben längst verloren. Deshalb
hätte es sich in beiden Fällen gelohnt,
einen Machtkampf zu riskieren, zumal die
Unterstützung breiter
Bevölkerungsschichten sehr wahrscheinlich war.
Bazargan und Khatami haben sich
jedoch trotz jeweils politisch günstiger
Bedingungen 1979 bzw. 2001 vor einem
Machtkampf mit dem konservativ-radikalen Lager
gescheut und verloren. Mossadegh
bestand 1951 im Kampf gegen die Monarchie
kompromisslos auf der Trennung
zwischen Regierung und Monarchie und gewann ihn,
weil er durch seinen Rücktritt
seine Glaubwürdigkeit unter Beweis stellte und
die Bevölkerungsmehrheit
spektakulär auf seine Seite zog. Der Schah
akzeptierte in einem unblutigen Kampf
Mossadeghs Forderung. Achtundzwanzig Jahre
später zwang Ayatollah Khomeini, in
der Hauptsache dank seiner Standhaftigkeit und
mit der Unterstützung der
Bevölkerung, den Schah zum Rücktritt und
schließlich zum Verlassen des Landes.
Die charismatische Führung sorgte dafür, dass
die islamische Revolution, im
Unterschied zu allen anderen Revolutionen, nicht
durch einen gewaltsamen Umsturz,
sondern vergleichsweise unblutig stattfand.
Die Überwindung der Selbstblockade
Dreißig Jahre islamische Revolution im Iran war
und ist voller Widersprüche. Diese
Zeit ist bei einer rückblickenden Betrachtung
gekennzeichnet durch teils Fortschritte,
teils Rückschritte und schließlich auch teils
Stillstand: Zu den tatsächlichen
Fortschritten gehören die Alphabetisierung, der
Ausbau der Bildungseinrichtungen,
der drastisch steigende Anteil der Frauen aus
allen sozialen Schichten an den
Schulen und Universitäten, flächendeckende
Erschließung der ländlichen Regionen
und Versorgung nahezu aller Dörfer mit
Straßenverbindungen, Strom, sauberem
Wasser sowie der Ausbau des Gesundheitswesens
mit einer, wenn auch sehr
bescheidenen Grundversorgung bei einer auf
beinahe das Dreifache
angewachsenen Bevölkerungszahl. Positiv zu
erwähnen ist auch die Entwicklung der
iranischen Zivilgesellschaft, vor allem während
der achtjährigen Präsidentschaft von
Mohammad Khatami. Als eindeutige Rückschritte
sind die im Grunde
zusammenhängenden Erscheinungen wie die
Ausweitung der Korruption als
Ergebnis klientelistischer Strukturen zu nennen.
Hinzu kommen Phänomene wie
Werteverfall, wachsendes Misstrauen,
Opportunismus, Perspektivlosigkeit bei der
Jugend einerseits, Entpolitisierung, Verbreitung
von Sucht und konsumistischen
Neigungen andererseits. Zu den Rückschritten
zählt auch die steigende Schere
zwischen Arm und Reich, und die Isolation Irans
von einem Teil der Welt mit allen
ihren Folgen für die Menschen und die Wirtschaft
des Landes. Hinsichtlich der
politischen und ökonomischen Entwicklung hat die
Zeit im Iran offensichtlich
stillgestanden. Trotz einer weiterhin lebendigen
Zivilgesellschaft tritt die
Demokratisierung der Gesellschaft auf der
Stelle, Menschenrechtsverletzungen,
Pressezensur, polizeistaatliche Willkür sind an
der Tagesordnung. Und trotz einer
quantitativen Entwicklung der Inlandsproduktion
bleibt die wirtschaftliche Entwicklung
Irans weit hinter den eigenen Potentialen
zurück. Hier ist der Iran über die
Nachahmung von ökologisch längst überholten
westlichen Produktions- und
Konsummustern dazu noch mit deutlich höherer
Energieintensität und schlechterer
Qualität nicht hinausgekommen.
Nun steht die Überwindung der Selbstblockade der
Islamischen Republik auf der
politischen Agenda. Dies setzt eine Stärkung der
demokratischen Institutionen
voraus. Für die größte politische
Herausforderung nach der Revolution reicht jedoch
das Reformlager allein nicht aus. Erforderlich
und durchaus auch realistisch wäre
6
eine Allianz mit den Moderaten aus dem
konservativ-radikalen Lager, die auch in den
Machtinstitutionen des Landes über eine starke
Basis verfügen.
Ahmadinejads Gegenkandidaten
Vier Personen stellen sich zur Wahl: der
amtierende Präsident Mahmud
Ahmadinejad, der Kandidat des „Systems“. Trotz
seiner wirtschafts- und
außenpolitisch ruinösen Politik und einer
breiten Allianz aller, die weder kurz- und
langfristig zu den Nutznießern seiner
klientelistischen Almosenpolitik zählen, hat
Ahmadinejad gute Chancen, gewählt zu werden. Es
sind immer noch viele, zu viele
Wähler, die dem Populismus eines Politikers vom
Schlage Ahmadinejads auf den
Leim gehen. Typisch für seine Politik sind die
Wahlgeschenke bei allen seinen
Reisen in die Provinz, die er in den
Vorwahlmonaten verstärkt unternommen hat.
Auch die Millionen Staatsangestellten köderte er
mit einer Gehaltserhöhung drei
Monate vor dem Wahltermin. Es ist auch von einer
Zuwendung von 50 – 100 USDollar
pro Kopf die Rede, die demnächst der Bevölkerung
gewährt werden soll.
Außerdem stehen die Bassidjis, eine halb
öffentliche paramilitärische
Basisorganisation mit Hunderttausenden aktiver
Mitglieder hinter ihm. Das
staatlichen Fernsehen macht offen Werbung für
die Wahl Ahmadinejads.
Die drei Gegenkandidaten sind Mohssen Rezai, Mir
Hussein Mussawi und Ayatollah
Mehdi Karubi. Mohssen Rezai ist sicherlich der
Überraschungskandidat, der erst
sechs Wochen vor der Wahl seine Kandidatur
bekannt gab. Er war seit 1981 16
Jahre lang der Oberkommandierende der
paramilitärischen Revolutionswächter, der
sich im iranisch-irakischen Krieg einen Namen
gemacht hat. Rezai gehört politisch
zum konservativ bürgerlichen Lager des Systems
um Rafsandjani, er könnte
Ahmadinejads Wahlchancen schmälern, da Millionen
Wähler im Umfeld des
Machtapparats in Rezai einen weiteren Kandidaten
ihres Vertrauens zur Auswahl
hätten. Rezai hat übrigens die klarsten und
realistischsten außenpolitischen
Vorstellungen. Er plädiert für die Versöhnung
mit den USA und für eine gemeinsame
Urananreicherung mit Beteiligung von USA; EU und
Russland, jedoch auf iranischem
Boden. Des weiteren befürwortet er eine
regionale Sicherheitsstruktur. Dennoch
scheint er keine echten Wahlchancen zu haben.
Ayatollah Mehdi Karubi ist ein
weiterer Kandidat des Reformlagers. Er war
Parlamentspräsident, der offensichtlich
über finanzkräftige Unterstützer aus
Händlerkreisen verfügt, jedoch nicht über die
Glaubwürdigkeit und das Charisma von Mohammad
Khatami. Karubi werden wenig
Chancen eingeräumt.
Der Hauptgegner Ahmadinejads ist jedoch
inzwischen eindeutig Mir Hussein
Mussawi aus dem Reformlager, der sich selbst als
konservativen Reformer
bezeichnet. Mussawi war in den 1980er Jahren
während des iranisch-irakischen
Krieges Ministerpräsident. Ihm wird allgemein
ein gutes Management der acht Jahre
andauernden Kriegswirtschaft bescheinigt. Er ist
jedoch nicht der Politiker, der das
Reformlager auf Vordermann bringen könnte.
Selbst Khatami-Anhänger haben sich
widerwillig hinter Mussawi gestellt und führen
nun, mangels Alternativen und um
Ahmadinejad zu verhindern, eine Wahlkampagne für
ihn. Mussawi hat allerdings die
offizielle Rückendeckung des Ex-Präsidenten. Bei
einer kürzlich durchgeführten
Wählerbefragung sind 48 % für den
Reformkandidaten Mussawi und 43 % für den
amtierenden Präsidenten. Insofern ist ein Sieg
Mussawis im zweiten Wahlgang trotz
mancher Zweifel an seiner Person durchaus in den
Bereich des Möglichen gerückt,
wohl auch deshalb, weil die Mehrheit der Iraner
entschlossen zu sein scheint,
Ahmadinejad auf jeden Fall abwählen zu wollen.
Die unverhohlenen
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Wahlmanipulationen durch Geldgeschenke könnten
letztlich für ihn zum Bumerang
werden.
Mohssen Massarrat, Prof. em. für Politik und Wirtschaft an
der Universität Osnabrück.