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Bürgerliche
Freiheit als Kontrapunkt zur Religionsfreiheit?
Die schweizer
Minarettverbotsentscheidung zeigt eine Diskrepanz zwischen
öffentlichem und privatem Toleranzempfinden vieler Europäer auf
Schlacht gegen die
Islamisierung des Abendlandes oder irrationale Angstkampagne?
Mohammed Khallouk
Entgegen den Empfehlungen
von Bundesrat, Bundesversammlung und Ständerrat, sowie den
Erwartungen der meisten landeseigenen Demoskopen haben die Schweizer
am 29. November 2009 in einer Volksabstimmung mit deutlicher
Mehrheit entschieden, den Neubau von Gebetstürmen an muslimischen
Sakralbauten verfassungsrechtlich zu untersagen. Die Schweiz, die
angesichts ihrer Neutralität während des Kalten Krieges ebenso wie
ihrer Vermittlerrolle in internationalen Konflikten in Ländern der
Dritten Welt bislang einen ausgezeichneten Ruf genoss, steht nun vor
allem in der Islamischen Welt in Erklärungsnot. Allerorts begegnet
man der Frage: Wie kann ein Land weltweit für Glaubens- und
Gewissenfreiheit eintreten, wenn es diese innerhalb der eigenen
Grenzen nicht für jede Glaubensrichtung gleichermaßen als gültig
erachtet?
Die Initiatoren des
erfolgreichen Volksbegehrens, die sogenannte „Eidgenössische
Initiative gegen Minarett-Bau“, bestehend aus einem 16 Personen
umfassenden Komitee von Aktivisten aus den Reihen der
rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) und der
christlich-klerikalen Eidgenössisch-Demokratischen Union (EDU),
sehen die Religionsfreiheit durch die Entscheidung nicht tangiert,
da das Minarett für eine Moschee im Islam keine Notwendigkeit sei.
Vielmehr setze die schweizer Bevölkerung ein Signal, dass sie eine
Eingliederung von Scharia-Recht in Schweizerrecht nicht länger zu
akzeptieren bereit sei und sich gegen eine „Islamisierungstendenz“
in ihrer Gesellschaft zur Wehr setze.
In der Tat schreibt der
Islam das Minarett für ein Gebetshaus nicht zwingend vor. Der
Muezzin-Ruf ist ebenfalls nicht obligatorisch, sofern die Muslime
ihr Gebet aus eigenem Antrieb zur vorgeschriebenen Zeit verrichten.
Ebenso wenig besteht ein Bibelvers oder ein kirchliches Dogma, das
ein Glockenturm an einem christlichen Gotteshaus angebracht sein
müsse. Schließlich besitzen die meisten neuzeitlichen christlichen
Gemeindezentren, vor allem jene der in der Schweiz zahlreich
vertretenen protestantischen Freikirchen keinen Turm. Würden deren
Vertreter den Neubau von Kirchtürmen jedoch ebenso gesetzgeberisch
untersagen wie neuerdings Minarette, hätten sie nicht nur sämtliche
Katholiken und Lutheraner – einschließlich der unregelmäßigen
Kirchgänger - gegen sich, bekennende Atheisten würden sich
gleichermaßen mit dem Verweis auf ein „traditionelles europäisches
Kulturgut“ zu Recht darüber entrüsten. Der Erfolg jener Initiative
gegen den Minarettbau ist somit vor allem als Signal an die in der
Schweiz lebenden Muslime zu werten, ihre Religion und die damit
einhergehenden Rituale gehörten nicht zu dieser
„christlich-abendländischen Kultur“.
Das Minarett wurde hier
folglich als ein geeignetes Symbol erkannt, um den Ausschluss einer
seit Jahrzehnten in der Schweiz wie in anderen europäischen Staaten
lebenden Minorität aus dem äußerlichen Erscheinungsbild zu
erreichen. Da man eine Bevölkerungsgruppe von über 400000 Menschen,
die über ihre Arbeitskraft und ihre Steuern zum Allgemeinwohl sowie
zur Volkswirtschaft entscheidend beiträgt, zunehmend sogar in den
Besitz der schweizerischen Staatsbürgerschaft gelangt ist, nicht
ohne weiteres des Landes verweisen kann, galt es, deren religiöse
Symbolik, mit der sie sich sichtbar von der alteingesessenen
schweizerischen Bevölkerung abheben, aus der Öffentlichkeit zu
verbannen. Bezeichnenderweise sehen Vertreter rechtsgerichteter
Parteien den Erfolg der Minarett-Initiative sogleich als Motivation,
ein erneutes Volksbegehren für ein Burkaverbot für Frauen zu
starten.
Medienberichte über
Ehrenmorde, Zwangsehen, Mädchenbeschneidungen unter Muslimen, sowie
mangelnde Gleichberechtigung christlicher Minoritäten in majoritär
muslimischen Staaten dienen als legitimatorische Grundlage, den
Islam als Religion als mit den Werten des freiheitlichen
Rechtsstaats Europas unvereinbar und als „Bedrohung für die eigene
bürgerliche Freiheit“ zu stigmatisieren. Hiermit gelingt es, sich
als „Verteidiger“ eben jener Menschenrechte zu präsentieren, welche
man den Muslimen Schritt für Schritt zu entziehen trachtet.
Ablenkungsdiskussion
von der notwendigen Integrationsdebatte gegenüber muslimischen
Immigranten
Das Minarett erschien in
einem Land wie der Schweiz, die in hohem Maße vom Tourismus lebt und
in sämtlichen Reiseführern Wert auf ihr idyllisches Landschaftsbild
legt, geeignet, um die Kollektivangst vor dem „fremden“, durch die
Immigranten hineingetragenen Kulturelement zu schüren und den
Muslimen die Botschaft zu übermitteln, sie sollten sich den
traditionellen „schweizerisch-christlichen“ Gepflogenheiten
unterordnen. Im laizistisch geprägten Nachbarland Frankreich erfüllt
diese Funktion den dortigen Islamophoben das weibliche Kopftuch,
während den ökologisch orientierten, dem Tierschutz verpflichteten
Niederländern das Schächten als der eigenen Ästethikvorstellung
widerstrebende muslimische Schlachtvorschrift hierfür als
Kampagnenthema herhalten muss.
Jene Symbole erweisen sich
jedoch lediglich als Rechtfertigungsobjekte für die
ressentimentgeladene gesellschaftspolitische Sichtweise, die Muslime
seien prinzipiell nicht in der Lage, sich in das europäische
Wertesystem einzufügen. In der Diskussion wird daher auch
gelegentlich auf die sogenannten Parallelgesellschaften verwiesen,
die muslimische Immigranten in europäischen Großstädten bildeten und
anhand derer ihre grundsätzlich feindliche Einstellung der
Mehrheitsbevölkerung gegenüber offensichtlich werde.
Unbestreitbar ist die
muslimische Bevölkerungsminorität in Europa vor allem auf bestimmte,
zumeist ärmere Großstadtviertel konzentriert. Die Bildungsabschlüsse
liegen fast in allen europäischen Einwanderungsländern unter jenen
der alteingesessenen Bevölkerung. In einigen europäischen Staaten
liegen ihre PISA-Werte sogar noch unter denen nichtmuslimischer
Immigranten, so dass die sprachliche Hürde nicht als dafür alleine
verantwortlich angesehen werden kann. Den Islam jedoch als die
entscheide Ursache heranzuziehen, entbehrt ebenso jeglicher
Rationalität, wie die Schlussfolgerung, eine obrigkeitsstaatliche
Beschränkung eindeutig islamischer Kulturelemente sei in der Lage,
die Integration in angestrebtem Maße voranzutreiben. Vielmehr
erfordert es, eine politisch-argumentative Auseinandersetzung
darüber zu führen, welche Form der Integration die europäische Civil
Society für die unter ihnen lebenden Muslime überhaupt als
angebracht erachtet. Diese Debatte scheuen Rechtspopulisten wie die
SVP, die niederländische Freiheitspartei oder die Front National,
weil sie eine ernsthafte Wertediskussion einschließt und
möglicherweise zum Ausdruck brächte, dass die eigenen
gesellschaftlichen Ansichten denen fundamentalistischer, gemeinhin
als „nicht integriert“ bewerteter Muslime ähnlicher sind als der
Majorität der muslimischen Einwohner Europas.
Differenzen zwischen dem
Geschlechterrollenverständnis des Islam und jenem westlicher
Frauenrechtlerinnen lassen sich nicht leugnen. Bezüglich
gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, dem Besitz und Konsum
sogenannter weicher Drogen, sowie nicht zuletzt in ethischen Fragen
wie Schwangerschaftsabbruch, künstlicher Befruchtung,
Patientenverfügung, passiver und aktiver Sterbehilfe vertreten
Muslime in der Islamischen Welt wie in der europäischen Diaspora
ebenfalls zweifellos Positionen, die dem liberalen europäischen
Mainstream eindeutig entgegenstehen. Abgesehen von der berechtigten
Frage, ob eine Integration erst als erreicht anzusehen ist, wenn in
diesen Themengebieten die westlichen Mainstreamauffassungen von den
Muslimen geteilt werden, implizierte diese Debatte eine Reflektion,
in wie weit das eigene Menschenbild modernen Ansprüchen tatsächlich
entspricht.
Wenn der einst
linksgerichtete deutsch-jüdische Publizist Ralph Giordano, anderen
Linksintellektuellen vorhält, vor den „antiemanzipatorischen und
frauenfeindlichen Tendenzen“ des Islam, welche die gewöhnliche
Bevölkerung der Schweiz wahrgenommen habe, in ideologischer
Verblendung die Augen zu verschließen, sollte er ebenso die Courage
besitzen, die Initiatoren und Hauptunterstützer des Volksbegehrens
auf ihr Geschlechterrollenverständnis zu hinterfragen. Dabei hätte
ihm nicht nur auffallen müssen, dass die SVP den geringsten
Frauenanteil an allen Parlamentsfraktionen in der Berner
Bundesversammlung aufweist, sondern darüber hinaus, dass die
Vorstellungen zu Drogenkonsum oder Homosexualität der EDU –
christlich argumentierend – sich derjenigen islamistischer
Bewegungen fast im Wortlaut gleichen.
Offenbar sind Aufklärung
der Mehrheitsgesellschaft über den Islam und Emanzipation der Frau
nicht die eigentlichen Ziele jener Propagandisten als mehr die
Aufrechterhaltung eines gesellschaftlichen status quo, der einem
selbst einen gewissen Machtstatus sichert und den man durch die
muslimischen Immigranten ebenso bedroht sieht wie durch allgemeine
gesellschaftliche Veränderungen im Zuge der Globalisierung.
Sollte dies der Fall sein,
erfordert es eines Konzeptes, wie traditionelle Wertvorstellungen
mit der modernen Gesellschaft in Einklang gebracht werden können.
Christlich konservative Europäer könnten sich ebenso mit einem
solchen Gesellschaftsbild identifizieren wie bekennende Muslime und
die Basis für einen Wertekonsens wäre gelegt. Mit dem Verbot
traditioneller religiöser Symbolik lässt sich jene wertgebundene
Fortschrittlichkeit jedenfalls nicht erreichen, zumal die
gesellschaftspolitischen Sichtweisen sich dadurch in keiner Weise
ändern. Vielmehr werden Ausschließungsdiskurse eröffnet, die eine
oppositionelle Einstellung gegenüber der Modernisierungselite
verstärken und sich gleichermaßen im islamischen Fundamentalismus
wie im europäisch-christlichen Rechtspopulismus niederschlagen.
Die bewusste
Konfrontation mit dem Fremden wurde politisch vernachlässigt
Im Zusammenhang mit dem
schweizer Minarettverbotsreferendum wird immer wieder auf eine
Diskrepanz der Einstellungen zwischen den Eliten und der einfachen
Bevölkerung verwiesen, sowie über angebliche Divergenzen zwischen
„öffentlicher und veröffentlichter Meinung“ diskutiert.
Vergleichbare Phänomene sind bereits bei anderen Referenden in
europäischen Staaten, wie bei der ersten Ablehnung des
Lissabonvertrags in Irland oder beim schwedischen Nein zur
Einführung des Euro gemutmaßt worden.
Unterstellt wird dabei,
die Eliten hätten eine Entscheidung in der von ihnen erstrebten
Weise der „politischen Korrektheit“ halber für einzig vertretbar
dargestellt. Dies habe zum einen bestehende Skepsis in der
Bevölkerung zu ernsthafter Opposition anwachsen lassen und zum
anderen viele Anhänger der „inkorrekten“ Position zum öffentlichen
Verschweigen ihrer Absichten motiviert. Hieraus erklärt man sich
zudem die Differenzen zwischen zuvor präsentierten
Umfrageergebnissen in den Medien und der tatsächlichen Abstimmung.
Die Initiatoren werten das
Ergebnis daher auch als Votum gegen ein aufoktroyiertes
„Gutmenschentum“ der multikulturell empfindenden Funktionsträger.
Bestrebungen, ein als diffamierend geltendendes Plakat, das
Minarette in Raketenform vor einer schweizer Fahne neben einer
schwarz verschleierten Frau zeigt, in einigen Kantonen zu verbieten,
sah man vor diesem Hintergrund sogar als Beleg für eine
diktatorische Tendenz und den beabsichtigten „Anschlag gegen das
Bürgerrecht auf Meinungsfreiheit“.
Mag dieser Vorwurf
angesichts des tatsächlich diffamierenden Charakters des
Volksbegehrens und der diesbezüglichen Propaganda jeglicher
Grundlage entbehren, im konkreten Fall haben jene sich öffentlich
liberal und tolerant präsentierenden Eliten aus Politik und Medien
jedoch auch ihrerseits die gegen Muslime und islamische Symbolik
gerichtete Stimmung mit hervorgerufen. Dies erreichten sie weniger
durch ihre nach außen bekundete Positionierung im Sinne des
Minaretts im Referendum, sondern, indem sie jenes öffentlich
verschmähte diffamierende Plakat bei fast jeder Berichterstattung
darüber mit präsentierten, womit es höheren Bekanntheitsgrad
erlangte als die Initiatoren dies aus eigenen Mitteln erreicht
hätten. Der Eindruck eines durch die Muslime und ihre Sakralbauten
bestehenden Gesellschaftsproblems wurde auf diese Weise erst
erzeugt.
Ebenso förderten die
Massenmedien islamfeindliche Einstellungen mittels überproportional
häufigen Reportagen über Konflikte in der Islamischen Welt und als
„Terrorismus“ gewertete, islamisch gerechtfertigte Gewalt, die nicht
selten Berichten zur bevorstehenden schweizer Volksabstimmung
unmittelbar vorausgingen. Wie lässt sich erwarten, dass die
sachunkundigen Bürger eine nüchterne und zugleich aufgeschlossene
Einstellung gegenüber Muslimen an den Tag legen werden, wenn bei
ihnen permanent Negativassoziationen mit dem Islam medial
hervorgerufen werden, die mit der Lebenswirklichkeit der Majorität
in Europa ansässiger Muslime wenig gemein haben?
Bezeichnenderweise war die
Zustimmung zu dem Minarettverbot in abgelegenen ländlichen Regionen,
in denen so gut wie keine Muslime ansässig sind, Moscheen nur
vereinzelt in Hinterhöfen existieren und von Minaretten nur aus dem
Urlaub oder dem Fernsehen zu erfahren ist, am größten. In der
Metropole Zürich, in der bereits seit 1963 eine Moschee mit
zugehörigem Minarett steht – ohne dass es seither jemals dagegen
Proteste oder Einsprüche gegeben hat – wurde die Initiative zum
Minarettverbot hingegen mit über 63% der Stimmen zurückgewiesen. Die
höchsten Ablehnungsraten erfolgten zudem ausgerechnet in jenen
Vierteln, in denen der Anteil muslimischer Immigranten
überdurchschnittliche Werte erreicht. Offenbar steckt hinter
Initiativen dieser Art auch eine Instrumentalisierung eines
grundsätzlich beim Menschen vorhandenen Unbehagens vor dem
Unbekannten, das durch jene medial erzeugten Negativassoziationen
allerdings extrem verstärkt wurde.
Umfragen aus Deutschland
belegen, dass islamophobe Tendenzen bei akademisch gebildeten
Bevölkerungsschichten der unter 30jährigen am Geringsten zu
verzeichnen sind. Diese fanden bereits die Möglichkeit vor, sich
sowohl in ausreichendem Maße mit der „fremden Religion“ auseinander
zu setzen als auch aus der unmittelbaren Begegnung mit Muslimen der
sogenannten „dritten Einwanderergeneration“ im schulischen und
universitären Alltag ein realistisches Bild von ihrer religiösen
Praxis und Weltanschauung zu erhalten.
Sofern jene Bildungselite
ein ernsthaftes Interesse daran besitzt, ihren Kulturpluralismus und
ihre Aufgeschlossenheit gegenüber der Andersartigkeit an die übrige
Bevölkerung weiterzuvermitteln, besitzt sie eine Verantwortung,
diese ebenso bewusst mit den in Europa lebenden Muslimen, sowie
deren Kultur und Werteordnung zu konfrontieren. Anstatt permanent
über bedrohlich anmutende Randphänomene wie Zwangsehen und
Ehrenmorde, die zudem vom Islam in keiner Weise eingefordert sind,
zu berichten, gilt es außerdem, über die tatsächlichen Hintergründe
der islamischen Lehre zu informieren und über die Funktionalität der
vielen Europäern suspekt erscheinenden muslimischen Rituale
aufzuklären.
Es darf nicht zugelassen
werden, dass fremdenfeindliche Populisten ein bestehendes Unbehagen
gegenüber Muslimen für die Verbreitung ihrer kulturalistischen,
sowohl dem europäischen als auch islamischen Gleichheitsgrundsatz
widersprechenden Ideologie missbrauchen können. Abgesehen davon,
dass im konkreten Fall auch die demokratische Berechtigung einer
landesweiten Volksabstimmung zu hinterfragen ist – bei der in Basel
mit darüber entschieden werden kann, ob in Lugano ein Minarett
gebaut werden darf – sollte in Einwanderungsländern wie Deutschland,
Frankreich oder der Schweiz der Islam zum obligatorischen
schulischen Unterrichtsthema gehören, bei dem im Vorfeld bestehender
Kontroversen um religiöse oder mit der Religion assoziierte
Symbolthemen argumentativ diskutiert und die Schüler über deren
Bedeutung aufgeklärt werden.
Religiöser Pluralismus
als elitärer Luxus oder europäisches Markenzeichen?
Mit Verweis auf bestehende
Defizite in Religionsfreiheit und Menschenrechten islamischer
Staaten wird nicht selten eine in Europa bestehende Reserviertheit
gegenüber den Ansprüchen der dortigen muslimischen Minorität
gerechtfertigt. Demnach dürfe man nur derjenigen Religion die
vollständige staatliche Anerkennung zugestehen, die in von ihr
dominierten Gesellschaften diese anderen, insbesondere jüdischen und
christlichen Minoritäten ebenso gewährleiste. So berechtigt die
Forderung der Europäer zur Einhaltung der universellen
Menschenrechte auch und gerade im islamischen Kulturraum ist, zumal
der Islam Juden und Christen gegenüber selbst zu Toleranz und
besonderem Respekt auffordert, so wenig darf unzureichende
Einhaltung demokratischer Gepflogenheiten und Menschenrechte
andernorts als Rechtfertigung für eigene Selektivität in Bezug auf
religiöse Ansprüche herhalten.
Schließlich könnten in
diesem Fall islamische Regime auch umgekehrt ihren Entzug von
Freiheitsrechten für bestimmte Gesellschaftsgruppen mit dem Verweis
auf das negative Vorbild in europäischen, christlich geprägten
Staaten zu legitimieren versuchen. Man würde religiösen Pluralismus
als elitären Luxus darstellen, welchen die zumeist nicht sehr
wohlhabenden Staaten des Nahen und Mittleren Ostens sich nicht zu
leisten in der Lage seien, zumal gemeinhin als „reich“ angesehene
Länder wie die Schweiz religiöse Praktizierung ebenso wenig für jede
Konfession vollständig zu implementieren sich bereit zeigten.
Das politische Europa
stellt die politische, religiöse und kulturelle Pluralität als sein
spezifisches Identitätsmerkmal dar und legt die Menschenrechte als
ideelle Voraussetzung seiner gegenwärtigen zivilisatorischen
Progressivität aus. Hieraus zieht es in den Augen einer
Bildungselite in Ländern der Dritten Welt in der Tat seine
Vorbildhaftigkeit. Insbesondere Staaten wie die Schweiz, die keine
koloniale Vergangenheit besitzen, haben bisher entscheidend dazu
beigetragen, dass in islamischen Staaten die reale
Aufgeschlossenheit gegenüber europäischen Werten erheblich größer
ist als radikale Islamisten und korrupte Herrschaftseliten dies
gelegentlich nach außen darstellen.
Die wachsenden
Demokratisierungsbewegungen in der Türkei, im Iran, in Indonesien,
aber auch in zahlreichen arabischen Staaten könnten als hierfür
Beleg angeführt werden. Nicht zuletzt ist die anhaltende
Attraktivität Mittel- und Westeuropas für muslimische Immigranten
auch in Zeiten der ökonomischen Krise ein Indiz dafür, dass man sich
dort nicht nur beruflich zu entfalten erhofft, sondern Bedingungen
vorzufinden glaubt, die eigenen religiösen und kulturellen Ansprüche
ungehindert zur Geltung bringen zu können.
Sollte dieses fast
enthusiastische Europabild Risse bekommen, hätten die
Rechtspopulisten ihr vorrangiges Ziel eines Rückgangs der
muslimischen Einwanderung zwar möglicherweise erreicht, das
europäische Markenzeichen nach außen wäre jedoch unwiederbringlich
beschädigt und der ideelle Reichtum Europas, manifestiert in seiner
Pluralität, fände keine Bewunderung und Nachahmung mehr. Angesichts
anhaltend niedriger Geburtenraten bei der alteingesessenen
europäischen Erwerbsbevölkerung wären zudem die einheimischen
Sozialsysteme langfristig stärker bedroht als kurzfristig durch
Immigranten, die zeitweilig hieraus Leistungen beziehen.
Ein Europa, das auch in
Zukunft mit Weltoffenheit und ideeller wie materieller
Progressivität assoziiert zu werden bestrebt ist, sollte die
bereichernden Elemente „fremder“ hineinimmigrierter Kulturen in
höherem Maße zur Kenntnis nehmen. Hierzu gehört eventuell auch die
eine oder andere Moschee mit Minarett. Die Gefahr der „Überstülpung“
traditioneller alpiner Kulturlandschaft mit orientalisch anmutenden
Sakralbauten besteht bereits deshalb nicht, weil eine Moschee – mit
und ohne Minarett – ebenso wie eine christliche Kirche und jeder
Profanbau nach baurechtlichen Bestimmungen nur in hierfür
ausgewiesenen Zonen errichtet werden kann. Schließlich sind in den
Jahrzehnten seit Errichtung des ersten Minaretts in Zürich auf
schweizer Boden erst drei weitere Minarette erbaut worden und für
drei zusätzliche Minarette, die bereits seit 2006 in Planung sind,
konnte nach mittlerweile drei Jahren noch immer keine Baugenehmigung
gegeben werden, weil die nach geltendem Recht zulässigen Einsprüche
von Bürgern aus der Nachbarschaft noch immer nicht vollständig
ausgewertet, bzw. baurechtliche Unterlagen des Projektträgers nach
behördlicher Auffassung noch nicht ausreichend vorliegen.
Allein angesichts dieses
bürokratisch institutionellen Weges ist es in absehbarer Zeit
überhaupt nicht möglich, das Minarett als „Machtsymbol“ über das
ganze Land auszubreiten.
Der Hinzugesellung
islamischer Symbolik als weiterem Element zum bestehenden
kulturellen Mosaik sollte man sich jedoch nicht entgegenstellen.
Schließlich ist der Islam als solcher bereits durch die Millionen
Muslime, die in Europa leben, als Grundbaustein vorhanden. Gegen die
öffentliche Praktizierung fernöstlicher Religionen, deren Anhänger
in weit geringerer Zahl hier ansässig sind, hat die gleiche
Bevölkerung offenbar weit weniger einzuwenden, da in Langenthal im
Kanton Bern, einer der schweizer Gemeinden, in denen Muslime bislang
seit drei Jahren vergeblich sich um den Bau eines Minaretts bemühen,
vor kurzem ein Sikh-Tempel in einer Größe eröffnet wurde, die
außerhalb Indiens sonst nirgends anzutreffen ist.
Wenn die Europäer den
Muslimen die gleiche Aufgeschlossenheit und Toleranz entgegenbringen
würden wie anderen nichtwestlichen Kulturen, hätte gegen westliche
Normen gerichteter Fundamentalismus in der islamischen Welt
mutmaßlich nicht länger zahlreichere Anhängerschaft als dort. Vom
ethischen Fundament her sind Islam auf der einen Seite und Judentum,
Christentum, aber auch Hellenismus als geistige Wurzeln Europas auf
der anderen Seite sich ohnehin weit näher als beide Traditionen
gegenüber den Lehren aus Fernost. Zu diesen gemeinsamen Wurzeln von
Morgenland und Abendland gehört ein Humanitätsverständnis, das sich
nicht auf die eigenen Bürger oder Religionsanhänger beschränkt,
sondern die Ansprüche und Anliegen des Nächsten gleichermaßen zur
Geltung kommen lässt.
In dem Maße wie sich diese
tolerante Grundeinstellung nicht nur auf Bekundungen nach außen oder
Sonntagreden von staatlichen Funktionären bezieht, sondern im
privaten Alltag spürbar wird, kann ein individuelles demokratisches
Bürgerrecht wie die zivile Partizipationsmöglichkeit über nationale
Referenden nicht mehr für eine Einschränkung der Freiheit der
muslimischen Minorität missbraucht werden. Andernfalls stellt die
direkte Demokratie, auf welche gerade die Schweiz im Hinblick auf
die Vorbildhaftigkeit für die Civil Societies islamischer Staaten
nicht zu Unrecht stolz sein kann, für den Außenstehenden ein Beleg
für die Distanzierung der Europäer von ihrer eigenen Tradition dar.
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