Der südliche Teil Israels, Naqab bzw. Negev auf Hebräisch, umfasst
ungefähr 60 % des israelischen Territoriums innerhalb seiner
international anerkannten Grenzen. Dieses wasserarme Gebiet war die
Heimstatt für palästinensische und beduinische Bürger schon lange,
bevor der Staat Israel gegründet wurde. Doch die israelische
Regierung setzt alles daran, nun schon über Generationen, den Naqab/
Negev zu “judaisieren”. So arbeitet die israelische Regierung nicht
nur daran, den Naqab/Negev mit so vielen “Juden” wie möglich zu
besiedeln, sondern auch die Anzahl der “Araber”, besonders der dort
lebenden Beduinen, zu vermindern.
Während der vergangenen beinahe sieben Jahrzehnte vollzogen die
israelischen Behörden eine Reihe von Maßnahmen zum Zweck der
“ethnischen Reinigung” des Naqab/ Negev. Die Massenvertreibungen
1948, gefolgt von einer zweiten Welle 1951, zwangen zwölf
beduinische Stämme, ihr angestammtes Land zu verlassen, zum
Gazastreifen, in die “Westbank”, nach Ägypten, nach Jordanien.
Land, das Palästinensern und Beduinen gehörte, wurde beschlagnahmt;
“jüdische” Gemeinwesen entstanden mithilfe öffentlicher Zuschüsse
und Beihilfen. 1991 wurde ein Projekt mit dem Namen “The
Wine Road”
umgesetzt. Das erlaubte “jüdischen” Siedlern, etwa einhundert sehr
große Farmen einzurichten, auch dies mit wirtschaftlicher und
regierungsamtlicher Unterstützung, Die diente der Übernahme des
Landes aus dem Besitz der Beduinen. “Nicht- Juden” erhalten selten
eine Genehmigung, sich ein Heim im Naqab/Negev zu errichten. Selbst
Beduinen, die freiwillig in der israelischen Armee dienen, müssen
die Zerstörung ihrer Häuser erleben. Die israelische Regierung
entsendet regelmäßig ihre Bulldozer und ihre Polizei, um die
“illegalen” Häuser der Beduinen und Palästinenser im Naqab/Negev zu
zerstören. Im Jahre 2011 wurden mehr als tausend Häuser im Naqab/Negev
abgerissen.
Angesichts und entgegen dieser Politik haben Palästinenser und
Beduinen ihren Kampf für den Verbleib auf ihrem Land aufgenommen.
Die Bevölkerung leidet unter erheblicher Diskriminierung,
unter einem hohen Maß an Armut, unter ungenügendem Zugang zu
öffentlichen Diensten. Ungefähr 200 000 Beduinen leben im Naqab/Negev,
die Hälfte von ihnen in “nicht anerkannten Dörfern” - die der Staat
“anzuerkennen” sich weigert - obwohl viele dieser Dörfer schon
bestanden, bevor der Staat Israel gegründet wurde. Sie sind
abgeschnitten von Grundversorgungen wie Strom, fließendem Wasser,
Gesundheits-Einrichtungen, Schulen, Müll-Entsorgung. Der Kampf der
Beduinen geht um die Selbsterhaltung und auch darum, zu diesen
notwendigen Versorgungen auch ohne regierungsamtliche Hilfe zu
gelangen. Diskriminierung und schlechte Behandlung erzeugen Wut,
Wut führt zu Protest. Viele Demonstrationen unter dem Namen “Tag des
Bodens” 2005 waren der Solidarität mit den Einwohnern des Naqab /
Negev gewidmet. Die hatten mittlerweile bereits 30 000
Zerstörungs-Befehle gegen ihre Häuser erlebt.
Der “Prawer-Begin-Plan” ist der Versuch der israelischen Regierung,
die “nicht anerkannten“ Dörfer zu zerstören. Die Regierung stimmte
diesem Plan im September 2011 zu, er durchlief die Abstimmung im
israelischen Parlament, und wurde in der Knesset, am 24. Juni dieses
Jahrs beschlossen. Der Plan bestimmt die Konfiszierung des
beduinischen Landes und die Umsiedlung seiner Einwohner. Obwohl den
umzusiedelnden Beduinen Entschädigungen angeboten werden sollen, hat
doch die radikale rechtsgerichtete Partei “Das Jüdische Heim” in
letzter Minute einen Zusatz durchgebracht: Den Beduinen soll nur
eine begrenzte Zeit für die Akzeptanz dieser Kompensation
zugestanden werden (die dann zugleich deren Zustimmung zur
Konfiskation des Landes bedeutet). Falls sie aber in diesem
Zeitraum die Kompensation nicht unmittelbar annehmen sollten,
verlieren sie ihr Recht auf Kompensation. Ohne irgendeine Anhörung
der Beduinen selbst, erhielt dieser Plan die Zustimmung des
israelischen Parlaments. So sind gegenwärtig etwa 40 000 Beduinen in
Gefahr, infolge dieses Planes ihre Häuser zu verlieren.
Die “Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost” erhebt lauten
Widerspruch gegen diesen Plan. Sie drückt ihre Solidarität mit dem
gerechtfertigten Kampf der Palästinenser und Beduinen im Naqab/
Negev um den Verbleib im angestammten Lande aus. Der Plan ist nicht
nur unmoralisch und grausam, er ist auch Teil eines zynischen und
fehlgeleiteten Missbrauches der Idee des “Judentums” durch die
israelische Regierung. Mit der Politik der “Judaisierung” des Naqab/
Negev nimmt die israelische Regierung auch den Jüdischen National
Fonds(JNF) in Anspruch, ein Hauptinstrument zur Übernahme
arabischen Landes zur Verdrängung der ansässigen Bevölkerung.
Der Schauspieler Theodor Bikel, bekannt als “Tevje” im “Fiedler auf
dem Dach”, sagte zu dem Prawer-Begin-Plan, das erinnere ihn an die
russisch-zaristische Politik der Vertreibung gegenüber den
russischen Juden im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Wir
müssen dieser Behauptung zuzustimmen: es handelt sich um eine
rassistische Politik, wenn die Häuser der Menschen zerstört und
ihr Land weggenommen wird, allein aufgrund ihrer Ethnizität. Wir
verlangen, dass die Vollzieher einer solchen Politik der ”ethnischen
Säuberung” sich für ihre Tate verantworten müssen. Der Staat Israel
ist moralisch und rechtlich verpflichtet, all diese “nicht
anerkannten Dörfer” sofort anzuerkennen und dort alle öffentlichen
Einrichtungen zur Verfügung zu stellen, auf die alle israelischen
Bürger Anspruch haben.
Als Juden sind wir angewidert durch eine Wiederbelebung
rassistischer Politik im Namen des „jüdischen Staates“, eine
Politik, wie sie gegen Juden in den dunkelsten Zeiten unserer
Geschichte angewandt wurden. Als europäische Bürger erwarten wir von
der Europäischen Union, unmittelbar und dringend auf Israel
einzuwirken, seine menschenverachtende Politik der “ethnischen
Säuberung” zu beenden.
(Referenzen: Petra Wild, Apartheid und ethnische Säuberung in
Palästina, Promedia Verlag Wien 2013, S.55 ff: “Vertreibung,
Landraub und Zerstörung der einheimischen Kultur innerhalb der
Grünen Linie am Beispiel des Naqab/Negev”. Darin S.70 ff.: “Der
Prawer-Amidor-Plan.”)
19. Juli, 2013
Vorstand der jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.