Wann wird es zum Genozid?
Nadia
Hijab
Während eines Besuches in Ramallah vor einem Jahr und während des
israelischen Bombardements des Gazastreifens teilte ich mit einem engen
palästinensischen Freund meine Befürchtungen. „Es mag irrsinnig klingen,
aber ich denke, das wahre Ziel der Israelis ist es, alle
(Palästinenser) tot zu sehen.“
Mein
Freund sagte mir, ich solle kein dummes Zeug reden, der Angriff sei zwar
grauenhaft, aber das sei kein Massenmord. Ich sagte: „Darum geht es
nicht: es ist eine Bevölkerung die schon sehr anfällig für Krankheiten,
ja halbkrank sei, nach Jahren der Belagerung unterernährt, die
Infrastruktur zerstört, Wasser und Lebensmittel kontaminiert. Israels
Krieg würde die Menschen sicher über den Rand der Vernichtung stoßen,
besonders wenn die Belagerung aufrechterhalten wird.
Mit
andern Worten: Israel wird nicht gleich zehn tausend Palästinenser
töten, aber es wird für zehn Tausende die Vorraussetzungen zum Sterben
schaffen. Irgend eine Seuche kann dann den Job zu Ende bringen. Mein
Freund wurde bei diesen Worten still, aber schüttelte ungläubig seinen
Kopf.
Zwei
Dinge haben sich im letzten Jahr verändert: mehr Menschen haben bei dem,
was Israel im Gazastreifen tat, angefangen, den Terminus „Genozid“
anzuwenden. Und nicht nur Israel wird deshalb direkt angeklagt, sondern
zunehmend auch Ägypten.
Ist es
Genozid? „Die Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Verbrechens
des Völkermords“ – ein klares, präzises Dokument, das von der UN 1948
adoptiert wurde, erklärt, dass ein Genozid aus fünf Tatbeständen
besteht:
Die
Absicht der Vernichtung – ganz oder teilweise - einer nationalen,
ethnischen oder religiösen Gruppe.“
Drei
Tatbestände können für die Situation in Gaza nachgewiesen werden: „a)
das Töten von Mitgliedern einer Gruppe; b) das Verursachen von
ernsthaften körperlichen und seelischen Schäden bei Mitgliedern einer
Gruppe; c) Absichtliches Auferlegen von Lebensbedingungen, die auf
teilweise oder vollständige physische Zerstörung hinauslaufen“.
Juristen sind sich nicht einig, wie die Artikel der Konvention
interpretiert werden sollen. Es hat sich im Laufe der Jahre als
schwierig erwiesen, Verbrechen als Genozid zu definieren, geschweige
denn, sie zu verhindern bzw. zu beenden. In Übereinstimmung mit dem
Bosnien-Präzedenzfall – der bis dato einzigen entschiedenen
juristischen Klärung von Genozid – würde es für eine Anklage gegen
Israel wegen Völkermord notwendig sein, eine bewusste Absicht
herzustellen, um vor Gericht gestellt zu werden.
Israels Führung hat diesbezüglich natürlich keine Absichtserklärung
gegeben. Doch vielen verantwortlichen Israelis könnte nachgesagt werden,
dass sie dies getan haben. Zum Beispiel:
Die Palästinenser im Gazastreifen „auf Diät setzen“: Dov Weissglass,
2006, Mitarbeiter
Ariel Sharons;
Sie einem „größeren Holocaust“ aussetzen : Matan Vilnai , 2008, früherer
stellvertretender Außenminister.
Verteilung religiöser Erlasse, die Soldaten ermahnen, keine Gnade zu
zeigen: das
Israelische Armee-Rabbinat während des aktuellen Konfliktes (Gazakrieg)
2008/2009.*
Derartige Erklärungen entsprechen mindestens drei der 8 Tatbestände der
Voraussetzung eines Genozids, wie sie vom Genocide Watch Präsident
Gregory Stanton in den 1990er Jahren nach dem Ruanda-Genozid
identifiziert wurde: Klassifizierung, Entmenschlichung und Polarisierung
(?).
Dann
gibt es die absichtliche Zerstörung oder Blockade von
Lebensnotwendigem, wie es Israel vom Land und vom Meer aus tut. Schon
der Goldstone-Bericht sagte, dass der Entzug von Nahrungsmitteln,
Arbeit, Wohnung und Wasser für die Bewohner des Gazastreifens, der
Bewegungsfreiheit und des Zugangs zu einem Gericht einer Verfolgung
gleichkomme.
Seit
dem Dezember 2008/Januar2009 -Angriff gibt es viele maßgebliche
Berichte von Menschenrechts- und Umweltorganisationen über die
Auswirkung des Krieges und der anhaltenden Belagerung auf die Menschen,
den Boden, die Luft und das Wasser, einschließlich der Zunahme von
Krebserkrankungen, deformierten Neugeborenen und Todesfällen, die
hätten verhindert werden können. Die Todesrate bei Schweinegrippe im
Gazastreifen erreichte Mitte Dezember neun - und eine Woche später 13 –
eine Seuche im Kommen.
Das
achte Stadium des Genozids, das Stanton identifiziert, ist das
Abstreiten des Täters, dass er „irgendein Verbrechen begangen habe“.
Ausgerechnet Stanton leitete während des Konfliktes die Internationale
Vereinigung von Genozidforschern , die die Diskussion über Israels
Aktionen beendete, trotz Protesten u.a. vom Genozidforscher und Autor
Adam Jones. Jones und 15 andere Wissenschaftler hatten eine Erklärung
abgegeben, die feststellte, dass Israels Praktiken alarmierend nahe an
einem Genozid sind, um sie zu ignorieren; sie riefen dazu auf, das
Schweigen darüber zu beenden.
‚Alarmierend nahe’ ist richtig. Hier ist die Definition von 1943 von
Raphael Lemkin, dem Polnisch-jüdischen Rechtsgelehrten, der die
Genozid-Konvention vorangebracht hat:
„Genozid bedeutet nicht notwendigerweise die unmittelbare Zerstörung
einer Nation …
eher ist beabsichtigt, einen koordinierten Plan für verschiedene
Aktionen anzukündigen, die die Zerstörung der wesentlichen
Lebensgrundlage nationaler Gruppen zum Ziel hat, um dann die Gruppen
selbst zu vernichten. Die Ziele eines solchen Plans würde die
Auflösung der politischen und sozialen Institutionen, der Kultur und
Sprache, der nationalen Gefühle, der Religion und der wirtschaftlichen
Existenz nationaler Gruppen bedeuten und die Zerstörung der persönlichen
Sicherheit, Freiheit, Gesundheit, Würde und sogar das Leben der
Individuen, die zu solch einer Gruppe gehören.“
Man
kann sich kaum eine bessere Beschreibung dessen vorstellen, was im
Gazastreifen abläuft.
Alle
UN-Mitgliedstaaten haben die Pflicht, Aktionen von Genozid zu
verhindern und zu beenden.
Was
jetzt notwendig ist, wäre ein Land, das tapfer genug ist, die Führung zu
übernehmen, bevor es zu spät ist.
Nadia Hijab ist eine unabhängige Analystin und ein ranghohes Mitglied
des Institutes für Palästinastudien
( dt.
Ellen Rohlfs)
http://www.counterpunch.org/hijab01052010.html 5.1.2010
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