David Shulman*, Taayush, Fakultät gegen die Besatzung 8.6.
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Wir sind in der Stadt Davids,
buchstäblich – dem ältesten Teil Jerusalems,
unterhalb des Tempelbergs, nicht weit vom
Siloah-Tunnel, der vor 3000 Jahren unter König
Hiskia durch den Felsen gehauen wurde. Heute heißt
dieser Stadtteil Silwan. Etwa 50 000
palästinensische Jerusalemiten wohnen hier, fast
alle mit einer blauen Jerusalemer Identitätskarte.
Vor ein paar Tagen hat die Gemeindeverwaltung an 88
Häuser dieses Stadtteils einen Abrissbefehl
gesteckt. Etwa 1500 unschuldige Menschen sind dabei,
alles zu verlieren. Der angebliche Grund sei die
Schaffung eines archäologischen Parkes mitten im
arabischen Viertel. Die Wahrheit ist natürlich
völlig anders: hier wird noch eine jüdische Insel in
Ost-Jerusalem geschaffen; eine neue Siedlung wird
brutal in diesen dicht bevölkerten Hang
hineingesetzt. Und es ist wahrscheinlich nur der
Anfang – wenn erst mal ein Keil eingeschoben wurde,
kann man verbreitern und ihn mit andern jüdischen
Siedlungen im Norden, Süden und Osten verbinden (
mit Jabal Mukaber z.B. oder mit dem hässlichen
Monstrum Har Homa) . Es ist das Ziel, die noch mit
einander verbundenen palästinensischen Gemeinden von
einander zu trennen, die östlichen Bereiche der
Stadt durch Siedlungen, Landenteignung,
Hauszerstörung, Staatsterror und massive
militärische Kontrolle abzuwürgen und zu „judaisieren“.
Man stelle sich nur mal vor, wie
es wäre, wenn man eines Morgens im eigenen Haus
aufwacht, in dem Haus, das der Großvater lange vor
dem Staat Israel gebaut hat, und man auf einmal
eine offizielle Notiz an der Wand findet. Das Haus,
in dem man sein Leben lang gelebt hat, soll bald
zerstört werden. Man wird also bald mit den Kindern
ein Flüchtling sein. Es scheint unrealistisch. Ein
Haus, das so fest aussieht und bis in die Gegenwart
Bestand hatte, ein Ding aus Stein und Mörtel, aber
auch ein vertrautes Refugium. Nun ist die
Vertrautheit verletzt worden. Man wird bedroht, man
hat Angst, man ist allem preisgegeben. Eine lange
Reihe vom Abriss bedrohter Häuser erstreckt sich den
Weg hinauf bis zur Mauer der Altstadt.
Im Protestzelt, in dem wir
zusammengekommen sind, um die nächsten Maßnahmen zu
planen, ist eine Luftaufnahme in großem Maßstab an
der Wand befestigt, jedes der 88 Gebäude mit einem
Kreis und einer Nummer bezeichnet. Abed zeigt auf
Nummer 9, das Haus seiner Großmutter. Derjenige, der
es baute, ihr Großvater starb vor 100 Jahren. Es
wurde also im 19. Jahrhundert, in der türkischen
Zeit, gebaut. Überall würde man es als historisches
Denkmal bewahren wollen, aber in Israel-Palästina
sind solche Überlegungen irrelevant. Israel oder
Sharon wünscht dieses Stück Land – wie den ganzen
Rest.
Kann denn ein Haus exekutiert
werden, als ob es ein Krimineller wäre? Welches
Gericht hat dieses Haus verurteilt und für schuldig
befunden? Wie hat man für seine Verteidigung
plädiert?
Sprechende Plakate hängen an den
Zeltwänden in arabischer, hebräischer und englischer
Sprache: „Wo werden die 1500 Menschen hingehen?“ „
Wir zahlen unsere Steuern an die Stadt und dafür
erhalten wir Abrissbefehle“, „Warum stoßen sie uns
den Abhang hinunter?“ „Wie können wir unsere Kinder
für den Frieden erziehen, wenn sie uns die Häuser
zerstören?“ „Nein zur Enteignung des Landes!“ „Wir
werden nicht nachgeben!“ und besonders ergreifend
und einfach: „ Bitte, rettet uns!“ und „Warum ich?“
Ich schaue in die Runde der Hügel
um mich, die stark mit den schönen Steingebäuden
Jerusalems bebaut sind. Es gibt nicht viel Platz.
Die Häuser klettern steil den Hang hoch. Zwischen
ihnen gibt es kaum Abstand. Die Kinder rennen durch
die schmale Gasse außerhalb des Zeltes. Männer und
Frauen gehen ein und aus, manche schauen neugierig
auf die fremde Delegation von ein paar Dutzend
Israelis, die mit ihren eigenen Augen sehen wollen,
was hier geschieht und die versuchen wollen zu
helfen.
Es ist später Nachmittag, die
Sonne aber noch sehr heiß. Zehn palästinensische
Frauen sitzen eng zusammen auf der einen Seite des
Zeltes, viele mit bedecktem Kopf und langen dunklen
Kleidern. Im Hintergrund steht ein Tisch mit
Petitionen und Landkarten. Abed, Muhammad und noch
ein paar Männer stehen dahinter und wollen uns ihre
Geschichte erzählen.
Zunächst stellt uns Amiel vor:
wir sind von Taayush und haben uns - wie es der
Name sagt – der jüdisch-arabischen Ko-existenz
verschrieben. Er erklärt, wie wir arbeiten,
berichtet von einigen unserer Erfolge. Und wir
wollen uns hier gern dem Kampf anschließen. Eine
junge Frau in moderner Kleidung ist die erste, die
uns antwortet. Sie spricht klares Arabisch und
überzeugend; Khulud übersetzt wegen der Gäste ins
Hebräische. Sie heißt uns willkommen – aber ist
skeptisch: welche Art von Ko-Existenz ist im
Schatten dieser Ungerechtigkeit möglich? Was werden
diese Mütter ihren Kindern erzählen, die sehen
werden, wie ihre Häuser von israelischen Bulldozern
zerstört werden. Können wir von ihnen erwarten, dass
sie, wenn sie größer werden, Frieden wünschen? Worum
die Familien hier bitten, ist nur Fairness, einen
gerechten Frieden; sie wollen zwei Staaten,
nebeneinander und ein Ende dieses schrecklichen
ewigen Albtraumes. Warum sollte es ihnen verboten
sein, auf ihrem eigenen Stück Land zu bauen? Warum
kommen die Juden hierher und rauben ihr Land und ihr
Haus? Warum fälschen sie Eigentumsurkunden? Wie kann
der Staat hinter Ateret Cohanin stehen, der
ruchlosesten und skrupellosesten Siedlergruppe, die
in Silwan schon Häuser an sich gerissen hätte? Die
Leute dieses Viertel zahlen ihre Steuern, sie
gehören zu dieser Stadt – aber die Stadt gibt ihnen
gar nichts. Keine Dienstleistungen – und jetzt
kommen sie und wollen sie in ihren eigenen Häusern
zerstören. Sie dankt uns für unser Kommen, um
selbst zu sehen, was hier los ist.
Es ist für die Frauen nicht
leicht gewesen – so erfahren wir später – mit unserm
Besuch einverstanden zu sein. Sie wollen nichts mit
Israelis zu tun haben, nicht einmal mit denen, die
bereit sind, mit ihnen gegen die Regierung und die
Armee zu stehen . Die Männer, die alle lange
Gefängnisstrafen wegen meist geringfügiger
Anschuldigungen während der 1. Intifada (in den
80igern) hatten, überzeugten sie, dass wir nützlich
sein könnten.
Nun waren die Männer dran zu
reden. Zuerst Mohammad auf arabisch: Hier in
Al-Bustan, in Silwan, werden palästinensische Häuser
routinemäßig zerstört. Die Stadt wird Arabern
niemals Baugenehmigungen geben. Die Familien
wachsen. Schließlich wird aus Verzweiflung „illegal“
gebaut. Dann kommt die Stadt und reißt wieder ab,
und der Besitzer muss noch dafür bezahlen, manchmal
enorme Summen. Ein Haus an dieser Straße wurde
zerstört und dreimal wieder aufgebaut. Sie lieben
ihren Ort: „Leute sagen, es gäbe einen Garten Eden
in Allahs Himmel, ein Platz mit Wasser und grünen
Bäumen. Aber für uns gibt es nur einen Garten Eden,
und das ist Silwan.“
Abed entscheidet sich, hebräisch
zu sprechen, das er mit vollendetem Charme
beherrscht. Er ist ein Absolvent der besten
Sprachenschule Israels: neun Jahre im Gefängnis. Er
hatte viel Zeit, seine Kenntnisse zu verbessern. Er
wollte jedes Wort in den hebräischen Zeitungen
lesen, sogar die Todesanzeigen. Er spricht auch
perfekt englisch und ein passables Französisch. Alle
seine Sätze sind voller Würze. „Wir in Silwan haben
zwei Mütter: die Palästinensische Behörde, die sich
von uns abgewandt hat, und unsere Stiefmutter, die
Jerusalemer Stadtbehörde, die Krieg mit uns führt,
noch ist es ein Krieg auf niedriger Ebene.
Sie lügen uns die ganze Zeit an;
sie behaupten, wir würden nicht hier leben, wir
kämen aus Hebron; sie sagen, sie müssten den
städtischen Kern ausdünnen, damit ein Tsunami hier
kein Chaos anrichtet. Gab es jemals einen Tsunami in
Jerusalem?“ Er sagt, sein Herz sei voller Groll
gegen die israelische Linke. Mit den Rechten gab es
nie Hoffnung – sie sind wie sie sind – aber warum
ist die Linke, ihr wahrer Partner, so still und
macht sich mitschuldig? Sie hätten aufgehört,
fernzusehen, sie sähen keine Tagesschau mehr, weil
der Schmerz zu groß sei.
Gestern kam der Minister für
Tourismus in seinem eleganten Volvo nach Silwan,
umgeben von Soldaten mit gezückten Waffen; er
wollte ein paar Ruinen inspizieren. Abed kam nahe
genug, um ihm sagen zu können: „Statt diese Ruinen
aufzusuchen, sollten Sie die ansehen, die Sie im
Begriffe sind, aus unsern Häusern zu machen“. Er
sprach aus Verzweiflung. Sie hätten keine Zuflucht.
Eine Katastrophe käme auf sie zu. Sie fürchten sich
nicht, aber sie könnten an den Punkt kommen, an dem
sie sich mit ihren Kindern vor die Bulldozer werfen,
wenn die Attacke beginnt.
Als er sprach, starrte ich auf
die Gesichter der palästinensischen Frauen, viele
von ihnen sind alt. Mediterrane Gesichter – wir
könnten in einem Dorf in Griechenland oder Marokko
sein – wettergegerbt, vom Leben gezeichnet. Sie
scheinen mir, bestürzt zu sein und unfähig, die
Tragweite von dem zu begreifen, was auf sie
zukommt. Es scheint, als würden sie in eine
Geschichte laufen, die keinen Sinn hat, eine
Geschichte ohne Ende oder Ausgang , ohne Hoffnung.
Während ich sie in ihrer Hilflosigkeit beobachte,
kann auch ich meinen Schmerz und meinen Zorn nicht
mehr zurückhalten. Ich bin tief innen sehr wütend,
bitter, gepeinigt und wünsche mir nur das Privileg,
mit diesen Familien den Bulldozern zu trotzen.;
nein, ich wünsche mir, dass sie wissen, wie sehr ich
sie verstehe.
Wir beraten unter uns. Alles in
allem gibt es eine Chance, um diese Häuser zu
retten. Indem wir dies ins öffentliche Bewusstsein
Israels bringen: durch die Gerichtshöfe, indem wir
eine internationale Reaktion schlagartig aktiv
werden lassen. Wir bringen die Presse, wir planen
einen gemeinsamen Arbeitstag mit einigen Hunderten
von Freiwilligen; zusammen mit den Leuten aus Silwan
werden wir die betroffenen Häuser säubern,
anstreichen und verschönern. Wir werden uns auf
ihrem Marsch zur Stadtverwaltung in der Innenstadt
anschließen. Wenn die Polizei versucht, uns mit
ihren üblichen Methoden - Tränengas, Schlagstöcken,
Verhaftungen - zu stoppen, um so besser: dann werden
wir in den Abendnachrichten sein. wir haben es bis
jetzt viele Male getan. Wir sind müde vom Kampf
gegen diese Regierung um jedes Haus und jede Straße
– wir werden aber nicht aufgeben.
Vielleicht ist dies ein Fall, den
wir gewinnen können.
Danach unterhalten wir uns noch,
und Abed freut sich, als er entdeckt, dass ich an
der Universität unterrichte. Er arbeitete dort und
pflegte den Rasen und die Gärten, bis man entdeckte,
dass er im Gefängnis gewesen war. Danach feuerten
sie ihn sofort. Und jetzt darf er nicht einmal den
Campus betreten. „Bitte, grüße die Blumen von mir!“
Er beschreibt, wie er vor kurzem aufgefordert worden
war, Ophir zu besuchen, den für Silwan Zuständigen
bei der Inneren Sicherheit. Eines Tages klingelte
sein Telefon, und Ophir war am anderen Ende. Wie hat
er die Nummer erfahren? Dann behauptete Ophir, er
wisse alles, was in diesem Stadtteil geschieht . Er
warnte Abed, dass er ihn den ganzen Tag beobachte
und alles von ihm wisse, selbst wann er mit seiner
Frau schlafe. Noch ist Abed nicht eingeschüchtert;
er ist selbstbewusst und er ist sehr daran
interessiert, mit uns zusammen zu arbeiten.
Von den 1500, die bald obdachlos
gemacht werden sollen, sind die meisten Kinder.
Muhammad möchte einen Kindertag organisieren. Lasst
sie malen und zeichnen, was sie fühlen; lasst das
Fernsehen der Welt diese ihre Bilder zeigen. Wer
bringt es übers Herz, diesen Kinder etwas anzutun?
Er kann nicht glauben, dass die Regierung vor hat,
das zu tun. Er kann diese schreckliche
Ungerechtigkeit nicht akzeptieren, obgleich er ihr
den wahren Namen gibt. Er fragt mich nach meinem
Namen. Ich sage ihm: „David, Daud“ . Sein Gesicht
strahlt: „Daud, König David, er war von hier – er
war ein Silwani,“ Und für einen kurzen Augenblick
wird alles vergessen: die ganze verrückte Situation
über Identitäten und Behauptungen, Bulldozer,
Häuser, Juden, Palästinenser, ihre Flaggen,
Briefmarken, Waffen, die Bosheit der Macht – vor der
simplen, unabstreitbaren Tatsache: was immer er
war, wenn er überhaupt war, König David war ein
Silvani. Vielleicht ist es das, worauf es ankommt.
Er wäre sicher sehr erstaunt, ja entsetzt, was ein
Teil seiner Kinder den anderen antut – und das im
Namen einer alles verzehrenden Absurdität eines
Nationalstaates. Dieser David soll ein Dichter
gewesen sein. Mohammad - noch immer lachend -
beobachtet mich, wie ich darüber nachdenke. Aber da
gibt es noch etwas: Ayyub, der Prophet Hiob, war
auch hier. Seine Quelle, die Hiobsquelle ist hier
nur um die Ecke. Also Hiob, dessen Schmerz
unerträglich war, war auch ein Silvani. Kein
Wunder. Es scheint zum Terrain zu passen: der graue
Staub, die ausdörrende Sommersonne, das dunkle Zelt,
die zerknitterten Gesichter der Frauen. Aber Hiob
war glücklich auf seine Weise. Nachdem er
durchgehalten hatte, nachdem er aufgehört hatte,
einen rätselhaften Gott zu verfluchen, erhielt er
einen ganzen „Satz“ Kinder neu, eine Viehherde,
Reichtum; und was noch wichtiger ist: Gott war
bewegt, mit ihm zu sprechen, nicht um genau zu
erklären – er rezitierte das wunderbare Kapitel 38.
(Ja, auch er war ein Dichter.
Die heutigen Bewohner von Silvan
stehen einem anderen Rätsel gegenüber, vielleicht
nicht weniger unerträglich, obwohl ihr Leiden eine
Ursache und eine Erklärung hat – die einer
absichtlichen, systematischen, unbarmherzigen
menschliche Bosheit, Grausamkeit und Gier. Das kommt
nicht von irgendeinem Gott, auch wenn der Schrei der
Unschuldigen derselbe ist: „Warum ich?“
* Berühmter Professor für
Geisteswissenschaften an der Universität in
Jerusalem und Aktivist bei Taayush und Campus gegen
die Besatzung
(dt. Ellen Rohlfs