Hört auf zu lügen!
B. Michael,
Yedioth Aharanot, 5.9.08
Alle paar Jahre verliert man die
Geduld. Die Seele schreckt wieder vor dem Festival von
Unwahrheiten, Täuschungen und dem Sich-gegenseitig-Decken
zurück. Bei der spektakulären Blufftour, die noch einmal das
Ausmaß deutlich werden lässt, wie die Kultur der Lüge und des
Zuzwinkerns mitten in den Machtstrukturen Wurzeln gefasst hat.
Es ist nicht klar, welcher
Strohhalm/ welcher Bluff diesmal den Rücken des Kamels gebrochen
hat. War es der Schuss in den Kopf eines Geistigbehinderten in
Na’alin? Die verzweifelte Mutter, die zur Polizei ging, um das
Verschwinden ihrer Tochter zu melden und die dann mit
gebrochener Hand die Polizeistation verließ? Oder der Shin Bet
Mann, der noch einmal entschied, dass schwer kranke Patienten
ein Sicherheitsrisiko darstellen? Oder die Gerichte, die mit
lässiger Gleichgültigkeit all den Unsinn kaufen, der ihnen von
der Armee, der Polizei und dem Shin Bet angeboten wird?
Eindeutig sind sie alle zu weit gegangen. Um keine Verwirrung zu
stiften, wollen wir jedes extra behandeln .
Beginnen wir
mit der Armee
Wir wollen nicht noch einmal in
ihre systematischen „tiefen Lügen“ tauchen: wie die „Zivile
Verwaltung“, die nichts anderes als eine tyrannische
Militärregierung ist, mit allem was dazu gehört. Wie die
zwielichtige Zusammenarbeit der Armee mit den „Hügel“
–Siedlertypen; oder die Routinebeschimpfung durch Soldaten
gegenüber Passanten nur um der Unterhaltung und der Abwechslung
willen; oder die skandalöse Militärpolizei, die seit einem Jahr
jede ernsthafte Untersuchung des Tötens von Hunderten
unschuldiger Leute durch Soldaten verhindert.
All dies ist seit Jahren bekannt.
Es waren nicht jene kalten Köpfe, die die Geduld bis zum
Siedepunkt bringen. Was war es also?
Das erste war wohl die Episode des
Bataillon-Kommandeurs, der das Schießen auf einen gefesselten
Mann befohlen hatte. Zunächst log der Kommandeur. Und wenn der
Vorfall nicht gefilmt worden wäre, hätte das System rund um ihn
auch gelogen. Warum nicht? Seit langem wurde Verlogenheit zur
reflexartigen Antwort der Armee . Erst nach dem Filmen oder
nach hartnäckigen Befragungen, die die Fakten enthüllten, fühlt
sich die Armee gezwungen, die Wahrheit in Erwägung zu ziehen.
Diese Lüge lag noch in der Luft,
und schon kam die Geschichte mit dem Geistig-Behinderten in
Na’alin. Soldaten schossen auf ihn, und er wurde schwer
verletzt. So schnell wie der Blitz – innerhalb weniger Stunden,
lieferte die Armee eine sich rechtfertigende „Untersuchung“: der
verletzte Mann habe versucht, die Waffe eines Soldaten zu
grabschen.
Die Version der Armee ist ohne
Grundlage. Film und Zeugen belegen, dass der Mann auf einem
Balkon stand und von der Straße aus beschossen wurde. Er
versuchte gar nicht, nach irgend etwas zu grabschen. Er schrie
nur Schimpfwörter und erregte das sensible Ehrgefühl der jungen
Männer mit den Gewehren. Die Armee aber hielt an ihrer
Geschichte fest. Alles ist ok. Was war eigentlich geschehen?
Ach, noch ein Araber bekam eine mit Gummi ummantelte Kugel an
den Kopf. Na und?
Jeder weiß, dass sie alle lügen.
Und sie lügen unter Eid. Es läuft wie üblich.
Kümmert euch nicht um mich, der
ich ein stinkender Linker bin, der sich vor Selbsthass
verzehrt; aber was ist mit dem Kommandeur der Armee? Hat nicht
General Ashkenazi mehr als einmal klar gemacht, dass er der
Wahrheit ins Gesicht sieht? Hat er nicht auch genug von dieser
Kultur der Lüge? Weiß er nicht, dass diese Verlogenheit seine
Armee kaputt macht?
Wenden wir uns der Polizei zu!
Vor etwa einem Monat verließen ein
Mann und seine Frau das Theater in Jerusalem. Er ein Doktor, sie
eine Dozentin für Kunst. Ein Polizeiwagen blockierte die Straße
und der Polizist, der in ihm gekommen war, war eifrig dabei,
Strafzettel auszufüllen. Eine ziemlich bekannte Szene.
Schließlich ist Polizeiwagen alles erlaubt. Die Frau klatschte
in die Hände und erklärte spöttisch: „ Alle Ehre der Polizei!“
Kann man sich ein schlimmeres Verbrechen vorstellen? Sich über
einen fleißigen Schreiber von Strafzetteln mitten in seiner
Schicht zu mokieren?
Schnell wie der Blitz wurde die
Frau unter Zwang in den Polizeiwagen geschoben, Handschellen
angelegt und zur Polizeistation gebracht. Dem Mann ging es genau
so. …
In dieser Woche erhielt das Ehepaar
die Nachricht, dass die Polizeiuntersuchungseinheit, den Fall
abgeschlossen habe. Aber wie? „Die Angeklagte verhinderte den
Beamten, die Strafzettel zu schreiben .. griff den Beamten an …
und beleidigte ihn …“ Zweifelt jemand an dem, was wirklich dort
geschehen ist? Wer lügt und wer lügt nicht? Aber die
Polizei-Untersuchungseinheit (PIU) tat ihre Pflicht.
Verlogenheit bestimmte noch einmal den Tag.
Ein weiterer Fall. Eine
verzweifelte Frau ging zur Polizeistation und berichtete vom
Verschwinden ihrer 15 jährigen Tochter. Sie verlässt
geschlagen und blutend und mit einer gebrochenen Hand die
Polizeistation. Ihr emotionales Benehmen hatte den Polizisten
anscheinend nicht gefallen. Also neutralisierten sie sie mit
Schlägen. „Sie schrie, griff eine Polizistin an, zerriss die
Akte…“ berichtete die Polizei. Wie gewöhnlich. Diese
gewalttätigen Bürger greifen immer unsere arme, verfolgte
Polizei an.
Die perfide PIU untersuchte den
Fall noch einmal. Und wird jemand überrascht sein, wenn die Akte
wieder schnell geschlossen wurde?
Schließen wir mit dem Shin Beth
Ach, der Shin Bet. Ein ganzes Buch
könnte über die Kunst der Verlogenheit des Shin Bet geschrieben
werden. Von der Bus300-Affäre * bis zu Tali Fahima. Von dem
widerwärtigen Ausnützen des Gerichtes und der Krankenhäuser, um
Rache an denen zu nehmen, die sich weigern, mit ihnen zu
kollaborieren, gegenüber all jenen lächerlichen „al-Qaeda-Zellen,
die plötzlich wie auf Befehl aus der israelischen Bürgerschaft
hoch schießen. Hier folgt ein kleines Beispiel aus den letzten
Tagen: Zwei Gärtner, die für das Jerusalemer Gemeindeamt
arbeiten, werden vom Wachpersonal vor der Wohnung des
Ministerpräsidenten brutal zusammen geschlagen. Jene Träger von
Sonnenbrillen und lose sitzenden Shirts wurden anscheinend
beleidigt, als die Gärtner darum baten, sich auszuweisen. Das
Wachpersonal ist übrigens verpflichtet, sich selbst auszuweisen,
bevor es Passanten anspricht.
Einer der Gärtner musste in ernstem
Zustand ins Krankenhaus gebracht werden. Das Wachpersonal bleibt
unbehelligt. Sehr wahrscheinlich verkaufte dieses einen der
Bluffs („verdächtigtes Benehmen, Behinderung, Beleidigung und
ähnlichen Unsinn), die von ihren Arbeitgebern sofort und
gerne aufgenommen wurden. Perfidie wird sich noch einmal
durchsetzen.
Und ein weiterer Patient in
ernstem Zustand ist als „Sicherheitsrisiko“ definiert worden.
Ihm wurde verboten, ein Krankenhaus aufzusuchen, um behandelt zu
werden. Wieder eine unbegründete Lüge. Eine von Hunderten,
Tausenden, zehn Tausenden von Lügen, die Teil der Routinearbeit
der Geheimpolizei ist. Und deren Taten/ diese Aussagen werden
überhaupt nicht untersucht - nicht einmal, um den Schein zu
wahren.
Nun – unsere Geduld ist wieder
einmal am Ende, und noch einmal wurde unsere Frustration mit
ein paar zornigen Worten gemildert.
Man kann wieder schlafen gehen.
* 1984 wurde ein israelischer Bus
der Linie 300 zwischen Tel Aviv und Ashkelon von vier
bewaffneten Palästinensern gekidnappt. Zwei der Palästinenser
wurden nachträglich außergerichtlich von einem Shin
Beth-Agenten erschossen. Die Angelegenheit kam ans Licht, als
Fotos von zwei der Palästinenser lebend in israelischer Obhut
veröffentlich wurden. Es war vorher behauptet worden, sie seien
mit den anderen Kidnappern beim Stürmen des Busses von Soldaten
erschossen worden.
(Aus dem Hebräischen von George
Malent; aus dem Englischen: Ellen Rohlfs)
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