Vorspiel des Abzugs ( israelischer Siedler aus dem
Gazastreifen)
Ran
HaCohen, Juli 2005
Es
sind historische Tage in Israel: ein Showdown zwischen der Regierung
und den Siedlern.
Obwohl die beiden Parteien hinter den Kulissen mit einander verhandeln,
scheint es diesmal nicht wie ein Katz-und-Maus-Spiel für die Medien zu
sein, wie vor ein paar Jahren mit Ministerpräsident Baraks
Lieblingsheuchelei: ein paar Siedler wurden gefilmt, wie sie von
unbewohnten Westbank-Außenposten weggezogen wurden, nachdem ein
vertrauliches Abkommen unterzeichnet worden war, in dem die Regierung
ihre Rückkehr absicherte, sobald die Kameraleute gegangen waren. Dieses
Mal ist es ernst.
Man
kann verstehen, dass so viele Soldaten beim Evakuierungsvorspiel den
Befehlen nicht gehorchen wollen - anscheinend mehr als die Soldaten, die
sich weigern, an den Grausamkeiten der Besatzung teilzunehmen. Wobei die
letztern sich weigern, gegen den zu kämpfen, der immer schon als Feind
definiert wurde. Die ersteren hören nur einfach auf, sich dem
plötzlichen Meinungswechsel anzupassen, bei dem die Siedler von
Verbündeten zu Gegnern werden. Nur totale Außenseiter ( oder bezahlte
oder unbezahlte israelische Propaganda-Agenten) können glauben, dass die
israelische Armee ein neutrales Organ ist, das unparteilich Gesetz und
Ordnung gegenüber jedem in den Besetzten Gebieten durchsetzt. Wie jeder
Soldat, Siedler und Palästinenser weiß, ist die israelische Armee für
die Siedler da und umgekehrt. Seit Jahrzehnten sind Soldaten trainiert
worden, nur um die Siedler vor den Palästinensern zu schützen – und
nicht umgekehrt – und jede Übertretung der Siedler zu decken oder zu
übersehen. Israelische Soldaten dienten als Bodygards, Fahrer oder sogar
als Kindermädchen für individuelle Siedler oder ihre Familien. Die
mentale Veränderung, die Verbündete zu Gegnern wandelt, kann nicht so
leicht verkraftet werden.
Verwöhnte Banditen
Diese mentale und praktische Veränderung hat seltsame
Auswirkungen. Die Siedler sind vielleicht das absurdeste Beispiel. Ihr
Slogan, der genau für die erwartete Vertreibung geprägt wurde, heißt:
„Ein Jude deportiert keinen Juden“. Man bemerke einerseits den
ehrlichen, eklatanten Rassismus des Slogans: ein Jude mag wohl einen
Nicht-Juden, sprich Araber, vertreiben – so wie es Israel immer wieder
mit Hilfe der Siedler getan hat. Aber Juden vertreiben – oh nein – das
ist unjüdisch.. Auf der anderen Seite bemerke man die Demagogie beim
Verwenden des Wortes „Vertreibung“, das deutlicher in ihrem Slogan „Nein
zum Transfer!“ wird. Israelische Bürger, die in ein Land umziehen, von
dem sie wissen, dass es tatsächlich unter Besatzung ist, ziehen genau
wegen seines kontroversen Status dort hin. Sie sollen jetzt durch ihre
demokratisch gewählte Regierung zurück in ihr eigenes Land umziehen und
werden noch großzügig dafür entschädigt. Diese Leute vergleichen sich
scheinheilig mit den deportierten Palästinensern, die während des
Krieges von ihren Feinden in fremde Länder deportiert wurden und die
nicht nur ihren ganzen Besitz verloren haben -ohne Entschädigung zu
erhalten - sondern gewöhnlich auch ihre politischen und zivilen Rechte.
Äußerst peinlich ist die Tatsache, dass die Siedler – während sie ihre
rassistischen Slogans singen – plötzlich die „Demokratie“ entdecken. Der
Siedlerführer und Kolumnist Israel Harel (Haaretz, 14.7.05) beschreibt
die Entscheidung, die Siedlungen zu räumen ( letzte Woche noch einmal
von der Knesset-Mehrheit gebilligt) als eine „Vergewaltigung der
Demokratie“, als ob religiöse Siedler wie er jemals wirklich das Recht
einer demokratischen Mehrheit anerkannt hätten, sich von dem, was sie
als das Heilige Land betrachten, zurückziehen – denn es gehöre dem
jüdischen Volk aller vergangenen und zukünftigen Generationen. Siedler
beschweren sich auch über „undemokratische“ Maßnahmen, die dahin zielen,
ihre Absichten zunichte zu machen, in die Gazasiedlungen einzudringen,
um der Räumung zu widerstehen. Es ist tatsächlich seltsam, die Siedler
zu hören, die sich immer beschwerten, dass die Soldaten zu sanft mit den
Palästinensern umgehen, die konsequent sich mit dem Diskurs der
Menschenrechte identifizieren, mit der Verhältnismäßigkeit, der
Rechtsstaatlichkeit etc. mit unpatriotischer Missmacherei des linken
Flügels, der seit Jahrzehnten bereit ist, die Demokratie zu
vergewaltigen, um sein illegales Projekt voranzubringen ( alle
israelischen Regierungen ließen sich natürlich gern vergewaltigen) und
machten genau von dem Diskurs Gebrauch, den sie immer verleumdeten.
Einige von ihnen warnen sogar, dass die Maßnahmen, die man gegen sie
einsetzt, in Zukunft auch gegen andere angewendet werden. . Ein
lächerlicher Versuch, Sympathie zu gewinnen, der nur beweist, wie sehr
die Siedler von der gewalttätigen israelischen Realität entfernt sind,
bei der so viele Demonstrationen durch exzessive Gewalt der Polizei aus
einander getrieben werden . Der Wandel von einem Rowdy, der vom Staat
gesponsert wird, in einen gewöhnlichen Kriminellen ist nicht leicht zu
verkraften.
Beherrschender Kolonialismus
Aber
warum sich über die Siedler beklagen? Nachdem in der letzten Woche die
Siedlungen im Gazastreifen für Nicht-Bewohner geschlossen wurde, sagte
General Gershon Hacohen, der höchste militärische Kommandant der
Räumungsoperation, dass das Anhalten von Leuten an Checkpoints, die auf
dem Heimweg sind, „erniedrigend sei und ihre demokratischen Freiheiten
und Menschenrechte verletze“. Das ist eine interessante Bemerkung von
jemandem der einer Armee vorsteht, die seit Jahren Hunderte von
Checkpoints gegen die palästinensische Bewegungsfreiheit in den
besetzten Gebieten unter seiner Aufsicht hat.
Diese merkwürdige Konstellation lässt sogar Israels geachtete liberale
Richter unvergessliche Versprecher äußern: der gefeierte Präsident des
Obersten Gerichtshofes Aharon Barak, der sich mit einem Fall einer
Siedlergruppe befasst, der zur Last gelegt wird, Straßen überall im
Lande blockiert zu haben, schrieb letzte Woche, dass es kein
moralisches Argument gibt, das das Anhalten einer in Wehen befindlichen
Frau auf dem Weg ins Krankenhaus rechtfertigt.
Tatsächlich, eine tolle Einsicht ! Aber eine verblüffend Unvermutete: Wo
war der Richter Barak, als so viele palästinensische Frauen gezwungen
wurden, auf offenem Feld zu gebären, weil sie den israelischen
Kontrollpunkt nicht passieren durften? Hat er nicht vor kurzem die
Fernsehserie des israelischen Journalisten Hayim Yavin gesehen, der
solch eine erzwungene Geburt in der Natur dokumentierte? Bemerkte er
nicht, wie lächerlich seine Worte klangen? Hätte er sich nicht anders
ausdrücken können, nur um sein Gesicht vor unvermeidlichem Spott zu
wahren. Anscheinend ist dieser Kontext nicht bis zum Richter gelangt.
Die mit Blindheit geschlagene Formulierung des Obersten Gerichthofes
zeigt, dass die Entmenschlichung von Israels untergebenen Untertanen
tief in dem verankert ist, was viele als die reinste Inkarnation der
Demokratie des Staates betrachten.
Konsens
hinter dem Disput
Die Zusammenstöße zwischen der Armee und den Siedlern sollten
uns nicht irritieren ...
Man
sollte sich daran erinnern, dass die taktischen Differenzen zwischen der
Sharonregierung und den Siedlern eine gemeinsame Vision verbergen: die
der Stärkung der Besatzung der Westbank. Der Rückzug aus dem
Gazastreifen? Sharon machte nie ein Geheimnis daraus, dass er großzügig
kompensiert wird durch die de facto Annexion von etwa 40-60% der
Westbank, den sog. Siedlungsblocks, plus der Mauer, plus den Gebieten
zwischen der Grünen Linie und der Mauer, plus den sog. strategisch
wichtigen Gebieten, plus Groß-Jerusalem - alles gemäß den Karten, die
Sharon schon in den 70ern vorbereitete.
Die
geplante Vertreibung sollte diesem Zwecke dienen. Je schwieriger es
aussieht, um so nützlicher würde es für zurückgewiesenen ( US-) Druck
für zukünftige Rückzüge sein. Wie der „moderate Siedler“ Yoel Bin-Nun
letzte Woche erklärte: die Siedler wissen sehr wohl, dass ihre Schlacht
um Gaza verloren war. Mit der Fortsetzung des Kampfes wollen sie die
anderen Siedlungen retten. Sharon verfolgt dieselbe Strategie und
Vision. Die sehr großzügige wirtschaftliche Kompensation, die den
Siedlern angeboten wird, hat dasselbe Ziel: zukünftigen Rückzug
politisch und wirtschaftlich unmöglich zu machen.
Aus
demselben Grund wird die Geschichte neu geschrieben: der bevorstehende
Rückzug wird als apokalyptisch, als ein Ereignis ohne Präzedenzfall
betrachtet. „Niemals habe ein Jude einen Juden vertrieben“, niemals
zuvor habe sich der Staat Israel vom Lande Israel zurückgezogen.
Rabbiner wurden konsultiert, als ob sich plötzlich eine neue halachische
Situation ergeben hätte. Natürlich ist das alles Unsinn: Israel hatte
1956 den Sinai und den Gazastreifen besetzt und sich kurz danach davon
zurückgezogen. Israel besetzte 1967 den Sinai noch einmal und zog sich
in den frühen 80er Jahren zurück und evakuierte Tausende von Siedlern.
Aber Sharon und die Siedler können wenig gewinnen, wenn sie die Räumung
als eine weitere Phase der Geschichte von Israels fluktuierender Grenze
porträtieren oder als ein weiterer Kompromiss zwischen
expansionistischen Wünschen und politischen, militärischen und
wirtschaftlichen Realitäten. ...
Wenn - wie in den schlechtesten Zeiten der Likudregierungen –
amerikanische Abgesandte mit der Errichtung einer neuen illegalen
Siedlung in den besetzten Gebieten begrüßt wurde, so begrüßte Sharon
letzte Woche Condolezza Rice bei ihrem eiligen Besuch in Israel, indem
er wenige Stunden vor ihre Ankunft äußerte, nicht nur die illegale
Siedlung Ariel „auf immer“ zu halten, sondern sie auch zu erweitern und
sie mit dem eigentlichen Israel zu verbinden: es war ein Schlag ins
Gesicht des Präsidenten Bush und seiner Road Map.
Den
Rückzug als eine große Nummer zu porträtieren dient nur Sharons Image
als „Friedensmann“ oder als „israelischer De Gaulle“, der sich aus den
Kolonien zurückzieht, die er nicht einen Augenblick aufgegeben hat,
außer wenn einem klar wird, dass man einen Hügel aufgeben muss, um einen
Berg zu halten.
(dt.
und ein wenig gekürzt: Ellen Rohlfs)
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