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Sisyphus erlöst
Uri Avnery,
21. Juni 2014
WENN ES einen Gott
gibt, hat er sicher eine Menge Humor. Die Karriere von Shimon Peres,
der dabei ist, seine Regierungszeit als Präsident von Israel zu
beenden, ist ein klarer Beweis.
Hier ist ein
lebenslanger Politiker, der nie eine Wahl gewonnen hat. Hier ist der
weltbekannte Mann des Friedens, der mehrere Kriege begonnen hat und
nie etwas für den Frieden getan hat. Hier ist die populärste
politische Person, die den größten Teil ihres Lebens gehasst und
verachtet wurde.
Einmal, vor mehreren
Jahrzehnten, schrieb ich über ihn einen Artikel mit dem Titel
„Mister Sisyphus“. Sisyphus – man erinnere sich – war in alle
Ewigkeit dazu verurteilt, einen schweren Felsblock auf die Spitze
eines Hügels zu rollen, und jedes Mal, wenn er beinahe sein Ziel
erreicht hatte, rutschte ihm der Felsblock aus den Händen und rollte
wieder hinab.
Und das ist die
Geschichte von Peres‘ Leben - bis jetzt –gewesen. Gott oder wer
auch immer, hat offensichtlich entschieden: genug ist genug.
ES BEGANN, wie er als
Junge, in einem kleinen polnischen Städtchen lebte. Viele Male
beklagte er sich bei seiner Mutter, die andern Schüler in
der(jüdischen) Schule schlugen ihn ohne Grund. Sein jüngerer Bruder
Gigi musste ihn verteidigen.
Er kam 1934, ein Jahr
nach mir, als 11Jähriger in Palästina an (Er ist fünf Wochen älter
als ich). Sein Vater sandte ihn auf die landwirtschaftliche Schule
in Ben Shemen, ein Kinderdorf, das ein Zentrum für zionistische
Indoktrination war. Dort wurde aus dem polnischen Persky der
hebräische Peres, der sich der Noar Oved (arbeitende Jugend), der
Hauptjugendorganisation der herrschenden Mapai-Partei anschloss. Wie
es damals üblich war, wurde er in einen Kibbuz geschickt.
Dort begann seine
politische Karriere. Mapai teilte sich in zwei Teile, so auch die
Jugendbewegung. Der Junge und Aktive schloss sich der „Fraktion 2“
an, der linken Abteilung. Peres, ab jetzt ein Instrukteur, war unter
den paar, die klug waren, bei der Mapai zu bleiben. Und dies zog die
Aufmerksamkeit der Parteiführer an.
Die Belohnung kam
bald. Der Krieg von 1948 brach aus. Jeder in unserm Alter eilte,
sich der Kampftruppe anzuschließen. Der Krieg war buchstäblich ein
Kampf auf Leben und Tod. Peres wurde von Ben-Gurion ins Ausland
geschickt, um Waffen zu kaufen. Zweifellos eine bedeutende Aufgabe,
aber eine, die auch von einem 70-Jährigen hätte getan werden können.
Die Tatsache, dass
Peres in diesem schicksalhaften kritischen Augenblick nicht in der
Armee diente, wurde nicht vergessen. So verdiente er
jahrzehntelang die Verachtung unserer Generation.
ICH TRAF ihn zum
ersten Mal, als wir 30 waren – er war schon Generaldirektor des
Verteidigungsministeriums und der Liebling von Ben Gurion; ich war
der Herausgeber eines populären Oppositions-Magazins. Es war keine
Liebe auf den 1. Blick.
In seiner
einflussreichen Position war der junge Peres ein entschiedener
Kriegstreiber. Während der frühen 50er-Jahre ordnete das Ministerium
eine unendliche Kette von „Vergeltungsschlägen“ an, um das Land in
einem Kriegszustand zu halten. Arabische Flüchtlinge, die nachts zu
ihren Dörfern schlichen, wurden getötet; dafür wurden Juden getötet,
und inoffizielle Einheiten der Armee überquerten die
Waffenstillstandslinie zur Westbank und zum Gazastreifen, um
Zivilisten und Soldaten aus Rache zu töten.
Als die Situation
reif war, begannen Ben-Gurion und Peres 1956 den Suez-Krieg. Das
algerische Volk erhob sich gegen seine französischen
Kolonialherren. Unfähig zuzugeben, dass sie sich in einem echten
Befreiungskrieg befanden, gaben die Franzosen dem jungen ägyptischen
Führer Gamal Abd-al-Nasser die Schuld. In geheimer Absprache mit
einer anderen niedergehenden Kolonialmacht Großbritannien, machten
die Franzosen mit Israel im Geheimen aus, Nasser anzugreifen. Dies
endete in einem Chaos. Aber Peres und der Stabschef Moshe Dayan
wurden in Israel wie Helden gefeiert: die Männer der Zukunft.
Die Franzosen zeigten
ihre Dankbarkeit. Für seine Dienste erhielt Peres einen
militärischen Atomreaktor in Dimona. Peres rühmt sich noch immer,
der Vater von Israels Nuklearbewaffnung zu sein.
SEINE KARRIERE ging
klar auf die Spitze zu. Ben Gurion ernannte ihn zum
stellvertretenden Minister, und er wurde dafür bestimmt,
Verteidigungsminister zu werden, die zweit-mächtigste Position in
Israel, als sich eine Katastrophe ereignete. Der missmutige „Alte
Mann“ stritt mit seiner Partei herum und wurde hinausgeworfen. Peres
folgte. Der Felsen rollte nach unten.
Ben-Gurion bestand
darauf, eine neue Partei zu gründen, und zog einen unwilligen
Peres hinter sich her. Mit unermüdlicher Energie durchzog Peres
das Land, ging von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt, und die „Rafi“-Partei
nahm Form an. Doch trotz all ihrer berühmten Führer gewann sie nur
zehn Sitze in der Knesset. (Die Friedenspartei, die ich zur selben
Zeit gründete, erhielt ein Siebtel ihrer Stimmenanzahl).
Als Mitglied einer
kleinen Oppositionspartei, vegetierte Peres dahin. Die Zukunft
schien dunkel, als Nasser zur Rettung kam. Der ägyptische Präsident
sandte seine Armee in den Sinai, Kriegsfieber erreichte einen
hektischen Gipfel und die Öffentlichkeit entschied, dass
Ben-Gurions Nachfolger, Levy Eshkol, seine Position als
Verteidigungsminister aufgeben musste. Verschiedene Namen wurden
erwähnt. Ganz oben auf der Liste stand Peres.
Und dann geschah es
wieder. Moshe Dayan schnappte den Preis weg und wurde
Verteidigungsminister, Sieger des 1967erKrieges und ein weltweit
bekannter Held. Peres blieb ein grauer Politiker, ein kleiner
Minister. Der Felsen rollte wieder hinab.
Sechs ruhmreiche
Jahre lang war Moshe Dayan der Kapitän auf dem Narrenschiff, bis das
Fiasko des Yom Kippurkrieges kam. Er und Golda Meir wurden vom
Tisch gewischt, und das Land brauchte einen neuen
Ministerpräsidenten. Peres war der offensichtlichste Kandidat. Aber
im allerletzten Augenblick, erschien - praktisch aus dem Nichts -
Yitzhak Rabin und schnappte den Preis weg. Peres musste sich mit
dem Verteidigungsministerium zufrieden geben.
Er war es nicht. Die
nächsten drei Jahre widmete er Tag und Nacht unermüdlich seinem
Drang, Rabin zu unterminieren. Der Kampf wurde notorisch, und
Rabin erfand einen Titel, der Peres viele Jahre lang anhing:
„Unermüdlicher Intrigant“.
Die Bemühung brachte
jedoch Früchte. Am Ende seiner Amtszeit sah sich Rabin einem Skandal
gegenüber: Nach seiner Amtszeit als Botschafter in den USA ließ er
ein Bankkonto in Washington offen, was gegen das israelische Gesetz
war. Er dankte mitten in der Wahlkampagne von 1977 ab, Peres
übernahm das Amt. Endlich war der Weg offen.
Und dann geschah
Unglaubliches. Nach 44 auf einander folgenden Jahren an der Macht –
vor und nach der Gründung Israels - verlor die Labor-Partei die
Wahl. Menachim Begin kam an die Macht. Die Verantwortung hatte der
Parteiführer zu tragen, Shimon Peres. Niemand gab Rabin die Schuld.
AM VORABEND des
Libanonkrieges 1982 gingen Peres und Rabin zum Ministerpräsidenten
Begin und drängten ihn dazu, anzugreifen. Dies hinderte Peres nicht
daran, zwei Monate später als der Hauptsprecher der gigantischen
Protestdemonstration nach dem Sabra- und Shatila-Massaker
aufzutreten.
Begin trat zurück und
Yitzhak Shamir nahm seinen Platz ein. Bei der folgenden Wahl
erreichte Peres wenigstens ein Unentschieden. Shamir wurde wieder
Ministerpräsident für zwei Jahre, denen dann Peres folgte. Während
seiner zwei Jahre als Ministerpräsident tat er nichts für den
Frieden. Seine Haupttätigkeit war, den Präsidenten Haim Herzog davon
zu überzeugen, den Chef des Sicherheitsdienstes und eine Gruppe
seiner Leute zu amnestieren, die zugaben, mit bloßen Händen zwei
junge arabische Gefangene, die einen Bus entführt hatten, umgebracht
zu haben.
1992 war es wieder
Rabin, der ihrer Partei zur Macht verhalf. Er ernannte Peres zum
Außenminister, vermutlich, weil er ihm dort nichts antun konnte.
Doch die Dinge nahmen eine andere Richtung.
Yasser Arafat, mit
dem ich seit 1974 in Kontakt stand und den ich 1982 im belagerten
Beirut traf, entschied sich, mit Israel Frieden zu machen. Der
Kontakt wurde im Geheimen in Oslo aufgenommen. Das Ergebnis waren
die historischen Oslo-Abkommen.
Zwischen Peres,
seinem Assistenten Yossi Beilin und Rabin begann ein Wettbewerb um
den Ruhm. Peres versuchte, sich alles anzueignen. Beilin widersetzte
sich ärgerlich. Aber es war natürlich Rabin, der die schicksalhafte
Entscheidung traf und den Preis bezahlte.
Zuerst gab es eine
Schlacht um den Nobelpreis. Das Oslo-Komitee entschied natürlich,
diesen Arafat und Rabin zu geben (wie es vorher Sadat und Begin
verliehen hatte). Peres verlangte wütend, einen Teil davon
abzubekommen und mobilisierte die halbe politische Welt. Aber wenn
Peres ihn bekommt würde, warum dann nicht auch Mahmoud Abbas, der
mit ihm unterzeichnet hatte und der jahrelang für den
palästinensisch-israelischen Frieden gearbeitet hatte?
Nichts tat sich. Der
Preis kann höchstens an drei Leute gehen. Peres erhielt ihn – Abbas
nicht
DAS OSLO-Abkommen
öffnete für Israel eine neue Straße. Peres begann, (endlos) über
den neuen Nahen Osten zu sprechen, und adoptierte dies als seine
persönliche Handelsmarke. Er und Rabin hatten die Dinge zwischen
sich aufgeteilt. Und dann schlug das Unglück wieder zu.
Wenige Minuten
nachdem er neben Peres gestanden und ein Friedenslied auf der
Massendemonstration in Tel Aviv gesungen hatte, wurde Rabin 1995
ermordet. Peres selbst war am Mörder mit seiner geladenen Pistole
vorbeigegangen, der ihn mit einer Kugel nicht schmeicheln wollte.
Das war der
dramatische Höhepunkt für Peres und für Israel. Das ganze Land
kochte vor Wut. Falls Peres, der einzige Nachfolger, sofortige
Wahlen ausgerufen hätte, hätte er mit einem Erdrutschsieg
gewonnen. Die Zukunft Israels wäre anders verlaufen.
Aber Peres wollte
nicht als Rabins Erbe gewinnen. Er wollte mit seinen eigenen
Verdiensten gewinnen. Also verschob er die Wahlen, begann einen
neuen Libanonkrieg, der mit einer Katastrophe endete, verursachte
eine andere tödliche Terror-Kampagne, indem er den Mord an einem
beliebten Hamas-Führer befahl – und verlor die Wahl.
In einer Veränderung
von Murphys Gesetz: wenn eine Wahl verloren werden kann, wird Peres
sie verlieren. Wenn eine Wahl nicht verloren werden kann, wird
Peres sie trotzdem verlieren.
Bei einer
erinnerungswürdigen Gelegenheit wandte sich Peres bei einem Treffen
der Parteienmitglieder an diese und stellte eine rhetorische Frage
„Bin ich ein Verlierer?“ Die ganze Zuhörerschaft brüllte zurück:
„Ja!“
DAS SOLLTE das Ende
der Sisyphus-Schwierigkeiten gewesen sein. Neue Leute übernahmen die
Labor-Partei. Peres wurde zur Seite gedrängt. S o schien es
wenigstens.
Ariel Sharon, der
Likudführer des extrem rechten Flügels, kam an die Macht. In der
ganzen Welt wurde er als Kriegsverbrecher angesehen. Der
Verursacher mehrerer Greueltaten wurde von einer israelischen
Kommission als „indirekter Verantwortlicher“ für die Sabra- und
Shatila-Massaker getadelt, der Mann, der für das verhängnisvolle
Siedlungsprojekt verantwortlich war, benötigte jemanden, der ihn in
der Welt akzeptabel machte. Und wer war das? Shimon Peres, der
international berühmte Mann des Friedens. Später tat er dasselbe für
Netanjahu.
Aber sein Felsblock
rollte ein letztes Mal hinab. Die Knesset hatte einen
Staatspräsidenten von Israel zu wählen. Peres war der
offensichtliche Kandidat, gegen den nur ein politischer Niemand war,
Moshe Katzav. Doch das Unmögliche geschah: Peres verlor, obwohl er
eine Operation durchmachte, die seinen lebenslangen, traurigen
Gesichtsausdruck in etwas Freundlicheres veränderte.
Selbst Leute, die
Peres nicht liebten, stimmten darin überein, dass dies nun gerade zu
viel war. Katzav wurde der Vergewaltigung angeklagt und ins
Gefängnis geschickt. Endlich, endlich gewann Peres die Wahl!
SEITDEM hat sich die
Tragödie in eine Farce verwandelt. Der Mann, der sein ganzes Leben
verschmäht wurde, wird plötzlich die populärste Person in Israel.
Als Präsident konnte er jeden Tag reden, einen endlosen Strom von
Banalitäten loslassen. Die Öffentlichkeit leckte es auf
In der ganzen Welt
wurde Peres einer der großen alten Männer, einer der „Weisen
Alten“, der Mann des Friedens, das Symbol von allem Feinen und Guten
in Israel.
Sein Nachfolger ist
schon gewählt worden. Eine sehr nette Person der sehr extremen
Rechten.
In ein paar Wochen
wird Peres endlich abdanken.
Endlich? Warum, er
ist doch erst 90!
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs; vom Verfasser autorisiert)
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