Aus
der Vogelperspektive
Uri Avnery, 26.Mai 2012
AM 15.MAI, dem Jahrestag der Gründung des Staates
Israel begehen die arabischen Bürger einen Tag der Trauer für die
Opfer der Nakba („Katastrophe“) – den Massenauszug des halben
palästinensischen Volkes aus dem Gebiet, das Israel wurde.
Wie jedes Jahr hat dies viel Wut erzeugt. Die Tel
Aviver Universität erlaubte den arabischen Studenten eine
Versammlung abzuhalten, die von ultra-rechten jüdischen Studenten
angegriffen wurde. Die Haifaer Universität verbot solch eine
Versammlung. Vor einigen Jahren wurde in der Knesset über ein
Nakba-Gesetz debattiert, nach dem Teilnehmer an solchen Gedenkfeiern
drei Jahre Gefängnisstrafe bekommen sollten. Dies wurde später
modifiziert: Unterstützungsgelder von Seiten der Regierung soll von
d e n Instituten zurückgezogen werden, die die Nakba erwähnen.
Die „Einzige Demokratie im Nahen Osten“ mag wohl die
einzige Demokratie der Welt sein, die seinen Bürgern verbietet, an
ein historisches Ereignis zu erinnern. Vergessen ist eine nationale
Pflicht.
Es ist schwierig, die Geschichte des
„palästinensischen Problems“ zu vergessen, weil es unser Leben 65
Jahre nach der Gründung des Staates Israels beherrscht; die Hälfte
der Nachrichten in unseren Medien befasst sich – direkt oder
indirekt - mit diesem einen Problem.
Eben erst hat die südafrikanische Regierung
beschlossen, alle Produkte aus den Westbank-siedlungen müssten
eindeutig bezeichnet werden. Diese Maßnahme, die in Europa schon
besteht, wurde – ausgerechnet - von unserm Außenminister Avigdor
Lieberman rundweg als „rassistisch“ verurteilt, obwohl sich
Südafrika nur einem Boykott anschließt, der vor 15 Jahren von meinen
Freunden und mir initiiert wurde.
Die neue Regierungskoalition hat erklärt, sie wolle
die Verhandlungen mit den Palästinensern wieder aufnehmen (jeder
weiß, dass dies ein hohles Versprechen ist) Eine Welle von Morden
und Vergewaltigungen wurde den Arabern ( und afrikanischen
Asylsuchenden) untergeschoben. Alle Kandidaten für die ägyptische
Präsidentschaft versprechen, den Kampf für die Palästinenser
aufzunehmen. Ranghohe israelische Armeeoffiziere haben bekannt
gemacht, dass 3500 syrische und iranische Raketen, als auch
Zehntausende Hisbollahraketen aus dem Südlibanon bereit liegen, um
wegen Palästina auf uns abgefeuert zu werden. Und so weiter – eine
tägliche Liste.
115 Jahre nach der Gründung der zionistischen
Bewegung beherrscht der israelisch-palästinensische Konflikt unsere
Nachrichten.
DIE GRÜNDUNGSVÄTER des Zionismus übernahmen den
Slogan „ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ ( geprägt wurde
dieser Slogan schon 1854 von Earl Shaftesbury, einem britischen
christlichen Zionisten) . Sie glaubten das „verheißene Land“ sei
leer. Sie wussten natürlich, dass es in dem Land ein paar Leute
gibt, aber die Zionisten waren Europäer, und für Europäer am Ende
des 19. Jahrhundert, der Blütezeit des Imperialismus und
Kolonialismus, zählten die Farbigen – braun, schwarz, gelb, rot
oder was auch immer – nicht als wirkliche Menschen.
Als Theodor Herzl die Idee eines jüdischen Staates
erfand, dachte er nicht an Palästina, sondern an ein Gebiet in
Argentinien. Er beabsichtigte, dieses Gebiet von der ganzen
einheimischen Bevölkerung frei zu machen – aber erst, wenn sie alle
Schlangen und gefährlichen wilden Tiere getötet hätten.
In seinem Buch „Der Judenstaat“ wurden die Araber
nicht erwähnt - und das ist kein Zufall.
Als Herzl es schrieb, dachte er nicht einmal an
dieses Land. Das Land erscheint im Buch nur in einem winzigen
Kapitel, das im letzten Augenblick hinzugefügt wurde: „Palästina
oder Argentinien?“
Deshalb sprach Herzl nicht über die Vertreibung des
palästinensischen Volkes. Dies wäre auf jeden Fall unmöglich
gewesen, da Herzl den ottomanischen Sultan um eine Charta für
Palästina gebeten hatte. Der Sultan war ein Kalif, das geistliche
Oberhaupt der Muslime der Welt. Herzl war zu vorsichtig, um dieses
Thema anzuschneiden.
Dies erklärt die ansonsten seltsame Tatsache: die
zionistische Bewegung hat niemals eine klare Antwort auf diese
allerfundamentalste Frage gegeben: wie kann ein jüdischer Staat in
einem Land geschaffen werden, das schon von einem anderen Volk
bewohnt wird? Diese
Frage ist bis zum heutigen Tage unbeantwortet
geblieben.
Aber nur scheinbar. Irgendwo unter allem verborgen,
an den Rändern des kollektiven Bewusstseins, hat der Zionismus immer
eine Antwort. Sie ist so selbstverständlich, dass es nicht nötig
ist, darüber nachzudenken. Nur wenige haben den Mut, es offen
auszusprechen. Es liegt sozusagen im „genetischen Code“ der
zionistischen Bewegung und seiner Tochter des Staates Israel.
Dieser Code sagt: ein jüdischer Staat im ganzen Land
Israel. Und deshalb totale Opposition gegenüber der Errichtung eines
palästinensischen Staates – zu allen Zeiten, irgendwo im Land, egal,
was es kostet.
WENN EIN Stratege einen Krieg plant, bestimmt er als
erstes dessen Ziel. Das ist das Hauptbestreben. Jedes andere
Bestreben muss sich dementsprechend danach ausrichten. Wenn es das
Hauptbestreben unterstützt, ist es akzeptabel. Wenn es dieses
Hauptbestreben verletzt, muss es zurückgewiesen werden.
Das Hauptbestreben der zionistisch/israelischen
Bewegung ist es, einen jüdischen Staat im ganzen Land Israel zu
errichten – das Land zwischen Mittelmeer und dem Jordanfluss. Mit
anderen Worten: die Verhinderung eines arabisch- palästinensischen
Staates.
Wenn man dies begreift, machen alle Ereignisse der
letzten 115 Jahre Sinn. All die Biegungen und Windungen, alle
scheinbaren Widersprüche und Umwege, all die seltsam aussehenden
Entscheidungen machen einen perfekten Sinn.
Aus der Vogelperspektive sieht die
zionistisch-israelische Politik aus wie ein Fluss, der in Richtung
Meer fließt. Wenn er auf ein Hindernis stößt, umfließt er es. Der
Fluss fließt einmal nach rechts, einmal nach links, manchmal sogar
zurück. Aber er strebt mit einer wundersamen Entschlossenheit zu
seinem Ziel.
Das leitende Prinzip war, jeden Kompromiss
anzunehmen, der uns gibt, was wir in jedem Stadium bekommen können,
doch nie das Endziel aus den Augen zu verlieren.
Diese Taktik erlaubt uns jeden Kompromiss, außer
einem: einen arabisch-palästinensischen Staat, der die Existenz
eines arabisch-palästinensischen Volkes bestätigt.
Alle israelischen Regierungen haben gegen diese Idee
mit allen erreichbaren Mitteln gekämpft. In dieser Hinsicht gab es
keinen Unterschied zwischen David Ben Gurion, der ein geheimes
Abkommen mit König Abdullah von Jordanien machte, um die Gründung
eines palästinensischen Staates zu verhindern, wie die Resolution
der UN-Vollversammlung 1947 verfügt hatte, und Menachem Begin, der
einen Sonderfrieden mit Anwar Sadat machte, um Ägypten aus dem
israelisch-palästinensischen Krieg fern zu halten. Geschweige denn
Golda Meirs berüchtigter Ausspruch: „So etwas wie ein
palästinensisches Volk gibt es nicht.“ Tausende anderer
Entscheidungen von verschiedenen israelischen sich folgenden
Regierungen sind derselben Logik gefolgt.
Die einzige Ausnahme mochte das Oslo-Abkommen sein –
das auch nicht einen palästinensischen Staat erwähnt. Nach der
Unterzeichnung eilte Yitzhak Rabin nicht weiter, um solch einen
Staat zu gründen. Er blieb stehen, als ob er vor seiner eigenen
Kühnheit erschrak. Er zögerte, zauderte, bis der unvermeidliche
zionistische Gegenangriff in Fahrt kam und seinen Bemühungen – und
seinem Leben - ein Ende setzte.
DER GEGENWÄRTIGE Kampf um die Siedlungen ist ein
integraler Teil dieses Prozesses.
Das Hauptziel der Siedler ist es, einen
palästinensischen Staat unmöglich zu machen. Alle israelischen
Regierungen haben sie – offen oder geheim – unterstützt. Sie sind
natürlich nach dem Internationalem Recht illegal, viele von ihnen
sind sogar nach israelischem Gesetz illegal: Man nennt sie
verschieden: „illegal“ , „unrechtmäßig“, „unerlaubt“ usw.
Israels erhabener Oberster Gerichtshof hat
angeordnet, mehrere von ihnen zu entfernen, und er erlebt, dass
seine Entscheidungen von der Regierung ignoriert werden.
Die Siedler behaupten, dass nicht eine einzige
Siedlung ohne geheimes Einverständnis der Regierung errichtet
wurde. Und tatsächlich sind die unrechtmäßigen Siedlungen sofort mit
Wasserleitungen, dem Stromnetz und speziellen neuen Straßen
verbunden worden, und die Armee eilte hin, um sie zu verteidigen –
tatsächlich sind die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) schon
seit langem die Siedlungsverteidigungskräfte (SDF) geworden.
Anwälte und Rechtsverdreher sind massenweise damit beschäftigt ,
riesige Flächen palästinensisches Land zu enteignen. Eine berühmte
Anwältin entdeckte ein vergessenes ottomanisches Gesetz, das besagt,
wenn man vom Rande eines Dorfes schreit, dann gehört all das Land
dem Sultan, wo man dieses Schreien nicht mehr hört. Da der
israelische Staat der Erbe der jordanischen Regierung sei, die der
Erbe es Sultan sei, gehöre dieses Land der israelischen Regierung,
die es den Siedlern weitergibt.(Das ist kein Witz.)
Während der israelisch-palästinensische Konflikt zu
ruhen scheint und „nichts geschieht“, ist er mit aller Kraft auf dem
einzigen Schlachtfeld , das wichtig ist, im Gange: im
Siedlungsunternehmen. Alles andere ist marginal, wie die
erschreckende Aussicht eines israelischen Angriffs auf den Iran.
Wie ich schon oft gesagt habe, wird dieser nicht geschehen. Er ist
ein Teil der Bemühungen, die Aufmerksamkeit von der
Zwei-Staaten-Lösung abzulenken, der einzigen friedlichen Lösung, die
es gibt.
WOHIN FÜHRT die Negation des palästinensischen
Staates?
Logischerweise kann sie nur zu einem Apartheidstaat
im ganzen Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan führen. Auf
die Dauer wird dies unhaltbar sein und zu einem „bi-nationalen“
Staat mit arabischer Mehrheit führen, der völlig inakzeptabel für
fast alle israelischen Juden sein würde. Was bleibt also?
Die einzig denkbare Lösung würde ein Transfer aller
Araber auf die andere Seite des Jordan sein. In einigen ultrarechten
Kreisen wird darüber offen geredet. Der jordanische König hat schon
eine Heidenangst davor.
Ein Bevölkerungstransfer geschah schon 1948. Es gibt
noch immer ein Streitgespräch, ob dieser absichtlich geschah. Im
ersten Teil des Krieges war er eindeutig eine militärische
Notwendigkeit ( und wurde von beiden Seiten praktiziert) . Später
wurde er absichtlich durchgeführt. Aber der Hauptpunkt ist, dass es
den Flüchtlingen aus über 400 Dörfern nicht erlaubt wurde,
zurückzukehren, als die Feindseligkeiten vorüber waren. Im
Gegenteil: die Bevölkerung einiger Dörfer wurde sogar noch später
vertrieben und auch diese Dörfer zerstört. Jeder handelte nach der
unsichtbaren Direktive der Hauptbestrebung, eine Anweisung, die so
tief ins kollektive Bewusstsein gedrungen war, dass keine
speziellen Order mehr nötig waren.
Aber 1948 ist schon lange vorbei. Die Welt hat sich
verändert. Was vom tapferen und kleinen nach-Holocaust Israel
toleriert wurde, wird morgen vom mächtigen, arroganten Israel nicht
toleriert werden. Heute ist es ein Hirngespinst – ähnlich Träumen
der anderen Seite, in denen Israel irgendwie von der Landkarte
verschwinden würde.
Dies bedeutet, dass ethnische Säuberung – die einzige
Alternative zur Zwei-Staaten-Lösung – unmöglich ist. Das
Hauptbestreben ist in eine Sackgasse geraten.
ES IST oft gesagt worden, der
israelisch-palästinensische Konflikt sei ein Zusammenprall zwischen
einer unaufhaltbaren Kraft und einem unbeweglichen Objekt. Dies wird
unser Leben und das der nächsten Generationen dominieren.
Wenn wir nicht etwas tun, das fast unmöglich
aussieht: das Hauptbestreben ändern d.h. die historische Richtung
unseres Staates. Ein Ersatz dafür wäre ein neues nationales Ziel:
Friede und Koexistenz, Versöhnung zwischen dem Staat Israel und dem
Staat Palästina.
( Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)